Mit der „Machtergreifung“ am 30. Januar 1933 etablierten die Nationalsozialisten den Antisemitismus als Teil des staatlichen Zivilisationsbruchs. Die Traditionslinien des Antisemitismus und des religiösen Antijudaismus reichen jedoch mehrere Jahrhunderte zurück. Viele antisemitische Motive, Weltvorstellungen und Ressentiments verankerten sich besonders seit dem 19. Jahrhundert zunächst in intellektuellen Kreisen und zunehmend in parteipolitischen Programmen. Das häufig anti-emanzipatorische Narrativ gegenüber der jüdischen Bevölkerung, die schlussendlich als eigene Rasse bestimmt wurden, konstruierte gleichzeitig ein „exklusives Germanentum“ – später eine „arische Rasse“ – welches die Jüdinnen und Juden aus den völkischen Vorstellungen der Gesellschaft (u.a. „Volksgemeinschaft“) ausschloss. Als Folge des eliminatorischen Antisemitismus der Nationalsozialisten wurden sechs Millionen Jüdinnen und Juden ermordet. Der darüber hinaus politisch organisierten und rassistisch motivierten Vernichtung fielen ebenso Millionen politischer Gegner, Homosexuelle, Sinti und Roma, „Asoziale“, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter sowie Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer in ganz Europa dem nationalsozialistischen Terror zum Opfer.
Die Maßnahmen der Verfolgung und Vernichtung begannen mit der „Machtergreifung“, sie verschärften und radikalisierten sich schrittweise mit dem beginnenden Zweiten Weltkrieg am 1. September 1939. Zunächst waren viele Formen der Diskriminierung und Verfolgung von Jüdinnen und Juden gesetzlich im Alltag wirksam, es folgten zunehmend verschärfte Gesetzgebungen, welche Jüdinnen und Juden systematisch aus dem öffentlichen Leben und ihren Berufen ausschlossen (u.a. Heimtückegesetz, Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums u.v.m.). Sie forcierten die Ausgrenzung der Jüdinnen und Juden sowie deren Auswanderung. Am 15. September 1935 erhoben die Nürnberger Gesetze den Antisemitismus und die Rassenideologie der Nationalsozialisten zusätzlich auf die verwaltungsstaatliche Ebene. Die Jüdinnen und Juden wurden fortan auch gesetzlich als „Rasse“ bestimmt, die in der „nationalen Volksgemeinschaft“ der Nationalsozialisten keinen Platz mehr haben sollte.
Die Folge war zunächst Ausschluss aus den Betrieben, „Arisierungen“ von Unternehmen in jüdischem Besitz und das Verbot von „Mischehen“: Den Jüdinnen und Juden wurde nicht nur die gesellschaftliche Partizipation entzogen, sondern zunehmend auch die wirtschaftlichen und materiellen Grundlagen. Vorläufiger Höhepunkt war die Zerstörung der Synagogen und des verbliebenen jüdischen Eigentums („Reichspogrom“) um den 9. November 1938 – umfangreiche Verhaftungswellen, Verschleppungen und Inhaftierungen in die Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen und Buchenwald folgten. Erneut kam es nach 1933 zu weiteren Emigrationswellen und Fluchtbewegungen der Jüdinnen und Juden ins Ausland, um weiteren Verfolgungen zu entgehen. Im Herbst 1941 wurde jedoch ein allgemeines Ausreiseverbot erlassen.
Zu diesem Zeitpunkt war die systematische Entrechtung und Verfolgung der Jüdinnen und Juden weit fortgeschritten und mündete in deren Deportation und Vernichtung („Endlösung der Judenfrage“). Nach dem Überfall auf die Sowjetunion und den Eroberungen in Osteuropa erfolgte der Aufbau großer Protektoratsgebiete (v.a. des Generalgouvernements). Gleichzeitig wurde das System der Konzentrationslager als Vernichtungsmaschinerie in den neuen Gebieten auf- und ausgebaut. Die jüdische Bevölkerung Osteuropas wurde zunächst zusammengetrieben und in „Judenghettos“ interniert. Die ehemaligen Stadtteile wurden mit Stacheldraht umzäunt und bewacht. Die Einwohner fielen den anschließenden Massenexekutionen zum Opfer. Mit den Mordaktionen schufen die nationalsozialistischen Besatzer Platz für die Jüdinnen und Juden aus dem „Altreich“ (Deutsches Reich, Österreich, Böhmen, Mähren) – z.B. am 30. November 1941: „Rigaer Blutsonntag“.
In mehreren Deportationswellen zwischen 1941 und 1943 wurden die Jüdinnen und Juden aus dem Westen in die neu besetzten Gebiete verschleppt (offiziell „evakuiert“). Sie wurden zur Arbeit in Betrieben der Kriegswirtschaft gezwungen und in den „Judenghettos“ untergebracht. Von dort ging es häufig weiter in die Vernichtungslager. Die Systematik der nationalsozialistischen Verbrechen zeigt sich in der gezielten Vernichtung der Jüdinnen und Juden des Generalgouvernements in den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibor und Belzec zwischen Juli 1942 und Oktober 1943 (Aktion „Reinhardt“), der bis zu 1,8 Millionen Jüdinnen und Juden sowie etwa 50.000 Roma zum Opfer fielen.
„Im Herbst 1941 begann mit der systematischen, bürokratisch geregelten und bis ins Detail programmierten Deportation der Juden aus Deutschland die letzte Phase nationalsozialistischer Judenpolitik. Sie war nunmehr zielstrebig und ausschließlich darauf ausgerichtet, die europäische Judenheit auszurotten.“ (Benz 2000, S. 214)
Damit begann auch, was heute als Völkermord, Holocaust und Shoah bezeichnet wird: Die systematische und staatlich organisierte Vernichtung der Jüdinnen und Juden in Deutschland und in ganz Europa durch die Nationalsozialisten. Gezielt wurden zunächst die osteuropäischen Jüdinnen und Juden in den von der Wehrmacht in den eroberten und besetzten Gebieten Polens, der Tschechoslowakei, Ungarns, des Baltikums und Teilen Russlands zusammengetrieben und in Massenexekutionen ermordet. Es folgten die Deportationen aus dem „Altreich“ und den im Westen besetzen Gebieten in die „Judenghettos“ in den annektierten Gebieten. Dort mussten sie unter erbärmlichen und kläglichen Bedingungen leben, wie zahlreiche Briefe an noch im Westen verbliebene Familienangehörige, Freunde und Nachbarn dokumentieren. Sie wurden zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen, litten unter Hunger und katastrophalen hygienischen Zuständen. Viele starben, die übrigen wurden in die Konzentrations- und Vernichtungslager weitertransportiert und dort ermordet.
Die systematische Vernichtung, die „Endlösung der Judenfrage“ wurde auf der Wannseekonferenz (20. Januar 1942) auf höchster staatlicher Ebene zwischen Reinhard Heydrich, Adolf Eichmann und anderen Funktionären des NS-Regimes beschlossen. Konzentrationslager im „Altreich“ dienten bisher überwiegend zur Inhaftierung und Zwangsarbeit von Sozialisten, Kommunisten und auch politischen Gegnern, Dissidenten und vielen anderen. Die neu geschaffenen Konzentrationslager im annektierten Generalgouvernement (u.a. Auschwitz-Birkenau, Belzec, Chelmno, Lublin-Majdanek, Sobibor, Treblinka) wurden hingegen für die systematischen Tötungen ausgebaut.
Der Holocaust bzw. die Shoa begannen jedoch in den Regionen des „Altreichs“. Seit 1940 wurden die Jüdinnen und Juden in den Städten des Reiches zunehmend aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben und in „Judenhäusern“ einquartiert. Nach zahlreichen Entrechtungen und Arbeitsverboten verloren sie nun auch noch ihre materielle Grundlage und wurden aus dem öffentlichen Leben weitestgehend ausgeschlossen. Mehrere Familien mussten sich nun auf engem Raum eine Wohnung teilen.
Die Deportationen ab Herbst 1941 waren aufgrund dieser Konzentration der jüdischen Bevölkerung in den „Judenhäusern“ leicht zu organisieren. Die Transporte wurden in den Städten und Regionen von der Gestapo auf Befehl der SS organisiert und durchgeführt – sie erhielten Unterstützung von den unterschiedlichen Verwaltungseinrichtungen: Den Standes- und Einwohnermeldeämtern, Gesundheitsämtern und Finanzämtern. Die letztverbliebene und unter Zwang gebildete „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ (RVJD) musste die Vorbereitungen und Durchführung der Deportationen in den Städten unterstützen, die als „Evakuierung“ oder „Abwanderung“ verschleiert und verharmlost wurden. In Wagons der dritten Klasse und später in Güterwagen der Reichsbahn wurden nach und nach große Teile der jüdischen Bevölkerung in die neu besetzten Ostgebiete und überwiegend in das Generalgouvernement deportiert.
Auch aus Bielefeld wurden Jüdinnen und Juden in die „Judenghettos“ und anschließend in die Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert. Darüber hinaus wurde in Bielefeld die Deportation aus dem Umland zentralisiert. Die Gestapostelle Bielefeld befand sich seit dem 1. April 1934 am Siekerwall 9 – Mitte 1941 wurde sie der Leitstelle Münster untergeordnet und damit zur Gestapoaußenstelle Bielefeld. Sie war zuständig für die Regierungsbezirke Minden sowie die Länder Lippe und Schaumburg-Lippe. Der Deportationsbefehl an die Gestapoaußenstelle Bielefeld kam vom Reichssicherheitshauptamt (RSHA). In insgesamt acht Deportationszügen aus dem Zuständigkeitsgebiet der Gestapoaußenstelle Bielefeld wurden etwa 1.840 Jüdinnen und Juden über Bielefeld nach Osten verschleppt. Einige wurden durch den Einsatz zur Zwangsarbeit in Bielefeld vorübergehend wohnhaft – so zum Beispiel Artur Sachs. Andere wurden einige wenige Tage vor der angekündigten Deportation nach Bielefeld gebracht und in Sammelstellen einquartiert, die sich mitten in der Stadt befanden. Neben dem Veranstaltungssaal „Kyffhäuser“ am Kesselbrink wurde dazu auch das Gesellschaftshaus „Eintracht“ an der Ritterstraße genutzt. Die Jüdinnen und Juden in den Bielefelder „Judenhäusern“ wurden ebenso ein bis zwei Tage vor dem Abtransport aus den Wohnungen abgeholt und in den Sammelstellen untergebracht. Dort verharrten sie unter „Drangvoller Enge“, in hygienisch defizitären Zuständen und mussten auf ihre „Evakuierung“ warten. Auf Befehl der Gestapo durften zunächst 50kg, später nur 25kg Reisegepäck und Kochgeschirr mitgenommen werden sowie zwei Decken und Kleidung, die sie am Körper trugen. Wertsachen wie Uhren und Schmuck wurden ihnen gegen Quittung abgenommen, Mobiliar und andere Besitztümer verblieben in den Wohnungen. Sie sahen ihre Gegenstände nie wieder, denn sie wurden überwiegend durch das Finanzamt Bielefeld versteigert.
Am Tag der Deportationen gelangten sie mit Bussen oder zu Fuß, quer durch die Bielefelder Innenstadt zum Güterbahnhof (heute: Hauptbahnhof Bielefeld) und warteten dort auf die Sonderzüge der Reichsbahn, die sie nach Riga, Warschau, Theresienstadt, Auschwitz und Elben/Zeitz brachten. Die Ziele der Sonderzüge waren – bis auf Auschwitz – nur Zwischenstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager. In zahlreichen biographischen Darstellungen lassen sich weitere Schicksale der Personen nachverfolgen. Der überwiegende Anteil der Biographien ist bis heute jedoch unbekannt. Auch die Rekonstruktion der Namen von deportierten Opfern lässt sich in einigen Fällen nur schwer und mit viel Aufwand realisieren – die Originaldokumente wurden überwiegend von der SS vernichtet. Verschiedene Initiativen, Forschungsprojekte, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie interessierte Bürgerinnen und Bürger haben jahrelange Vorarbeit in der Auswertung von Dokumenten und in Gesprächen mit Hinterbliebenen und Überlebenden geleistet, die eine nahezu vollständige Rekonstruktion der Deportationslisten ermöglicht.
In der ersten Deportation aus dem Gestapobezirk Bielefeld wurden 420 Jüdinnen und Juden in das Rigaer „Judenghetto“ transportiert – zuvor wurden dort die zusammengetriebenen Jüdinnen und Juden aus Lettland ermordet, um ihnen Platz zu machen („Rigaer Blutsonntag“). Vom „Kyffhäuser“ führte der Weg am hellen Tag zum Hauptbahnhof, wo sie in den schon fast vollbesetzten Zug aus Münster einsteigen mussten. Nur 48 Überlebende kehrten nach Bielefeld zurück. Dank der Interviews der Überlebenden Artur und Berta Sachs, lassen sich heute viele Details vom 13. Dezember 1941 rekonstruieren. Die Situationen im Sammellager sowie am Haupt- und Güterbahnhof sind außerdem von dem Gestapo-Beamten Georg Hübner in der Kriegschronik mit 25 Fotos dokumentiert.
Die zweite Deportation verschleppte 325 Jüdinnen und Juden in das „Warschauer Ghetto“ – davon stammten 44 aus Bielefeld. Von ihnen überlebte nur Robert Levi aus Schlangen – die übrigen wurden überwiegend in den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec oder Sobibor ermordet. Zur Deportation wurden jene Jüdinnen und Juden bestimmt, die nicht in „Mischehen“ lebten und das 65. Lebensjahr noch nicht erreicht hatten. Auch sie mussten sich im Kyffhäuser einfinden und wurden vor aller Augen sichtbar zum Hauptbahnhof gebracht.
Vor der Öffentlichkeit und den Deportierten geheim gehalten fand die dritte Deportation über Bielefeld statt, die im neu eingerichteten Vernichtungslager Auschwitz II (Birkenau) endete. Neben 33 Bielefelder Jüdinnen und Juden – unter ihnen die bekannte Unternehmerin Thekla Lieber – befanden sich auch etwa 70 Jüdinnen und Juden aus Münster, Osnabrück und Dortmund. Einzigartig sind die erhaltenen Postkarten, die während der Fahrt aus dem Zug geworfen werden konnten – andernfalls wäre heute über den Deportationszug und die Opfer kaum etwas bekannt. Niemand überlebte die Deportation nach Auschwitz.
Der „Altentransport“ war die vierte Deportation aus Bielefeld und die dritte im Jahr 1942. Insgesamt wurden mit ihr 590 Jüdinnen und Juden in das „Altersghetto“ Theresienstadt verschleppt – davon stammten etwa 150 aus Bielefeld. Von ihnen überlebten nur 48 Personen – davon elf aus Bielefeld. Im Vergleich zu den vorherigen Deportationen fällt die hohe Suizidrate auf: Nach derzeitigem Kenntnisstand nahmen sich sechs Personen vor der Inhaftierung im Kyffhäuser und dem zweiten Sammelpunkt „Eintracht“ selbst das Leben – unter ihnen der Jöllenbecker Seidentextilfabrikant Eduard Wertheimer.
Die erste Deportation im Jahr 1943 umfasste nach heutigem Kenntnisstand 229 Männer, Frauen und Kinder: 76 stammten aus dem „Umschulungslager“ an der Schloßhofstraße 73a und weitere 100 aus dem Zwangsarbeitslager in Paderborn, die aufgrund des am 26. und 27. Februar 1943 erlassenen Verbots des Arbeitseinsatzes von Jüdinnen und Juden festgenommen und deportiert wurden – unter ihnen waren auch das nicht mehr benötigte Personal des RVJD sowie Paul Hoffmann und Lotte Windmüller. Sie wurden in den Sammelstellen „Eintracht“ und „Kyffhäuser“ untergebracht. Erst kurz vor Abfahrt erfuhren sie, dass das Ziel Auschwitz war. Nur einige wenige, unter ihnen Paul Hoffmann, überlebten die Deportation am 2. März 1943.
Anfang März wurden auch die in Bielefeld wohnhaften Sinti-Familien deportiert. Bisher ist wenig über die Verschleppung bekannt. Über das Schicksal von Adalbert Weiß, lässt sich rekonstruieren, dass der Weg zunächst über Hannover und anschließend nach Auschwitz führte. Weitere Forschung zu diesem Thema befinden sich in der Vorbereitung.
Bis zum 30. Juni 1943 sollten die Deportationen enden und das Reich „judenfrei sein“. Die zwei letzten Deportationen, die im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“ über Bielefeld stattfanden, verschleppten nun auch das verbliebene Personal der RVJD sowie die überflüssig gewordenen „Rechtskonsulenten“ und einige „Krankenbehandler“ in Bielefeld.
Die zwei Transporte verließen Bielefeld am 12. Mai mit 29 Personen aus Bielefeld und am 28. Juni 1943 mit 15 Personen aus Bielefeld. Deportiert wurden überwiegend ältere oder im ersten Weltkrieg dekorierte Jüdinnen und Juden – unter Ihnen Dr. Gustav Meyer und seine Frau Therese sowie Julius Hesse.
Die Deportationen ab 1944 fanden überwiegend nicht mehr als Teil der „Endlösung der Judenfrage“ statt, sondern zielten auf den Arbeitseinsatz in der „Kriegswirtschaft“. Deportiert wurden überwiegend Ehepartnerinnen und Ehepartner aus „Mischehen“, die bisher von den Transporten verschont geblieben waren. Die Eheleute und Kinder ab 14 Jahren wurden getrennt und in unterschiedliche Arbeitslager gebracht: die Männer nach Tröglitz bei Zeitz in Thüringen, die Frauen und Kinder nach Elben bei Kassel. Wie viele Personen deportiert wurden, ist bis heute nicht eindeutig zu ermitteln. Vermutlich umfasste der Transport 183 Menschen, davon 40 aus Bielefeld. Sie mussten sich kurzfristig und ohne Vorankündigung im Gesellschaftshaus „Eintracht“ am Klosterplatz einfinden und wurden anschließend deportiert.
Die letzte Deportation aus und über Bielefeld verließ den Hauptbahnhof nach Theresienstadt am 13. Februar. Sie stand im Zeichen der Kriegsniederlage, die unmittelbar bevorstand – die Kommunikation zwischen Gestapo lokalen Behörden verlief chaotisch. Auch hier konnten bisher keine konkreten Zahlen ermittelt werden – aktuell wird von 58 Personen ausgegangen. Wie viele davon aus Bielefeld stammten, ist derzeit noch unbekannt. Unter ihnen befand sich auch Fanny Pakebusch.
Streng genommen handelt es sich bei den massenhaften Verschleppungen von männlichen Juden nach Buchenwald ebenfalls nicht um eine Deportation im Rahmen der „Endlösung der Judenfrage“. Nach dem Pogrom am 9. und 10. November 1938 wurden dennoch reichsweit in gezielten Verhaftungswellen etwa 26.000 Jüdinnen und Juden in die Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt. In Ostwestfalen-Lippe waren 406 Juden betroffen, die in Buchenwald inhaftiert wurden – derzeit sind davon 41 Juden aus Bielefeld nachweisbar. Unter unmenschlichen Haftbedingungen starben die Bielefelder Richard Baer, Julius Goldschmidt, Alfred Levy und andere. Wer überlebte, wurde im Februar 1939 unter den Auflagen entlassen, die eigenen Geschäfte, Fabriken und Häuser zu verkaufen – eine letzte Welle der „Arisierung“. Ferner wurden viele zur Auswanderung gezwungen. Vielen gelang die Auswanderung jedoch nicht, sie wurden anschließend 1941 oder 1942 erneut deportiert. Im Vorfeld zu den Verschleppungen 1938 fanden die „Polenaktion“ (Oktober 1938) und die „Juni-Aktion“ (Juni 1938) statt.
Nicht alle Verfolgten aus Bielefeld sind direkt über ihre Heimatstadt verschleppt, deportiert und anschließend ermordet worden. Die verhältnismäßig geringe Zahl von etwa 1.840 deportierten Jüdinnen und Juden aus dem Zuständigkeitsbereich der Gestapo-Außenstelle Bielefeld zwischen 1941 und 1945 täuscht über jene Opfer hinweg, die zur Flucht und Auswanderung gezwungen wurden. Bis Ende 1941 flohen reichsweit Zehntausende vor der Willkürherrschaft des NS-Regimes, weitere wurden verhaftet und in den Konzentrationslagern inhaftiert. Ebenso sind in der Zahl jene Verfolgten aus Bielefeld und Umgebung nicht enthalten, die zuvor in die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Italien und Spanien, ggfs. auch nach Skandinavien sowie andere Teile der Welt geflohen waren. Viele wurden nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten seit 1940 dort gefangen genommen und anschließend in die Vernichtungslager der besetzten Ostgebieten gebracht. Wie viele Bielefelder Jüdinnen und Juden beispielsweise im Durchgangslager Westerbrock (Niederlande) inhaftiert und anschließen „nach Osten“ deportiert wurden, ist bisher nicht bekannt. Hingegen sind einige Insassen des Umschulungs- und Arbeitslager in der Schlosshofstraße 73a auch im Konzentrationslager Camp de Gurs in den Pyrenäen nachzuweisen. Hier ist noch einige Forschungsarbeit zu leisten.
Die Deportationen wurden mit Unterstützung zahlreicher Behörden geplant und durchgeführt. Hauptverantwortlich war das Referat „Räumungs- und Judenangelegenheiten“ IV B 4 des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) unter der Leitung von SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann. Unter speziell entwickelten Vorgaben wurden die Anweisungen zur Deportation an die Leitstellen der Staatspolizei (Stapo) und Geheimen Staatspolizei (Gestapo) weitergeleitet und somit mit der Durchführung der Deportationen in den einzelnen Regionen beauftragt. Über die RSHA und die Gestapo-Leitstelle Münster erreichten die Anweisungen auch die Gestapo-Außenstellen in Bielefeld. Gleichzeitig organisierte das RSHA die Sonderzüge der Reichsbahn. Die Gestapostellen führten anschließend die Transporte durch – zunächst die Inhaftierung in zentrale Sammelunterkünfte und dann den Abtransport „nach Osten“. Die Gestapo allein wäre nicht in der Lage gewesen die Deportationen auszuführen. Sie stützte sich auf die kommunale und reichsweise Verwaltung (Einwohnermeldeämter, Finanzämter und Wohnungsämter) sowie auf die Reichsbahn. Im Zusammenspiel setzten sie die notwendigen Beschlüsse, Absprachen, Dokumentationen und Umsetzungen durch.
Eine weitere wichtige Rolle kam der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) zu. In Folge des Pogroms um den 9. November 1938 hatte das NS-Regime jüdische Organisationen verboten – z.B. Schulen. Im Februar 1939 bildete sich daraufhin die RVJD, die fortan als Ansprechpartner des NS-Regimes die Aufgaben der jüdischen Selbstverwaltung übernahm. Sie sollten sie zunächst die Auswanderung fördern und die Organisation der der Fürsorge sowie des Schulwesens für Jüdinnen und Juden übernehmen. Nach dem Auswanderungsverbot im Oktober 1941 wurde der RVJD in die Mitorganisation der Deportationen verpflichtet – z.B. für den Gepäck- und Personentransport.
Dazu gehörte auch die Schnittstellenfunktion zu den Judenreferaten der Gestapo. Somit unterstützte die RVJD indirekt die Gestapo auch in der Erstellung der Deportationslisten und die Auswahl der aus den Städten sowie dem Umland zu deportierenden Jüdinnen und Juden. Weil die RVJD zunächst die Kooperation mit dem NS-Regime suchte, wurde ihre Rolle in der Nachkriegszeit als ‚Kollaborateure‘ charakterisiert, die die Shoa aktiv unterstützt habe. Jürgen Hartmann weist jedoch darauf hin, dass zunächst der Erhalt der Autonomie im Fokus der RVJD stand und die zu übernehmenden Aufgaben überwiegend unter Zwang ausgeführt werden mussten.
Mit Blick auf die Deportationen spielte die RVJD Westfalen, deren Bezirksstelle in der Laerstraße 9 in Bielefeld befand, eine wichtige Rolle. Die RVJD musste bei der Personenauswahl für die „Evakuierungsbefehle“ mitwirken, die gemäß dem geforderten Kontingent die Deportationsopfer bestimmte. Das Judenreferat der Gestapo – in Bielefeld in der Verantwortung von Wilhelm Pützer – erstellte die Listen, die anschließend in Rücksprache mit dem RVJD korrigiert wurden. Ausgewählt wurden zunächst arbeitsfähige Jüdinnen und Juden – Alte und Kranken blieben zunächst verschont, auch Familien in „Mischehen“ waren erst mit der zunehmenden Radikalisierung der „Endlösung der Judenfrage“ während des fortschreitenden Kriegs betroffen. Ältere (ab 65 Jahren) oder verdiente Jüdinnen und Juden – z.B. Veteranen des Ersten Weltkriegs oder Funktionäre des RVJD wie der Bezirksleiter Max Ostwald – wurden überwiegend in das „Altersghetto“ nach Theresienstadt deportiert. Viele starben vor Ort an Unterernährung, Entkräftung oder Krankheit in Folge der mangelnden Hygiene – ab 1942 wurden auch sie systematisch in die Vernichtungslager weitertransportiert und ermordet.
Uwe Horst weist auf einen wichtigen Unterschied bei der Frage nach dem Wissen, Wegschauen und Profitieren der übrigen Bevölkerung an den Deportationen hin: Während die fortschreitende Entrechtung der Juden, die Arisierung von jüdischem Besitz und Betrieben, dem Pogrom am 9. November 1938 bis zur Einquartierung der jüdischen Bevölkerung in „Judenhäuser“ und deren Deportation (offiziell verharmlosend „Evakuierung“ genannt) in die besetzten Ostgebiete für die Bevölkerung im Reich offen sichtbar waren und sowohl Unterstützung und Akzeptanz als auch Skepsis und Ablehnung fand, geschah der systematische Mord außerhalb des Alltags der meisten Menschen. Daraus zu folgern, man habe das nicht gewusst, wäre jedoch ein Fehlschluss. Dass die „Nachbarn“ aus dem Osten nicht zurückkehrten, das Leben unter unmenschlichen Bedingungen in den „Judenghettos“ und Konzentrationslagern stattfand sowie der plötzliche Abbruch von Kontakten zu Deportierten und die Versteigerungen des zurückgebliebenen Besitzes durch die Finanzämter stattfand, lässt begründete Zweifel am allgemeinen Unwissen zurück. Gleichzeitig zeigen aber auch Jürgen Hartmann sowie Joachim Meynert und Friedhelm Scheffer, dass die SS, die Gestapo und der SD angeordnet wurden, die Bürgerinnen und Bürger der Städte von den „Evakuierungen“ nicht zu belästigen. Davon zeugen die Richtlinien der Gestapo-Stelle in Münster vom 20. März 1942 an die Außendienststelle Bielefeld zur Durchführung der Deportation in das Warschauer Ghetto. Kurz gesagt: Die Deportationen und die anschließende Vernichtung der Jüdinnen und Juden sowie aller anderen Opfergruppen begann im Lokalen, auch in Bielefeld.
Für die Fragen zur Erinnerung an die Deportationen und die Vernichtung ist in erster Linie an die Opfer zu denken: Ihnen gilt es ihre Namen, ihre Biographien und ihre Identitäten zurück zu geben – an vielen Stellen überhaupt sichtbar zu machen, dass sie aus Bielefeld deportiert wurden. Dazu wurde am 16. August 1998 das Mahnmal „Jede Ermordete, jeder Ermordete hat einen Namen“ auf dem Vorplatz des Bielefelder Hauptbahnhofs errichtet. An wichtigen Jahrestagen werden von Bürgerinnen und Bürgern die Namen aller deportierten Jüdinnen und Juden verlesen. Weiter erinnern zahlreiche Stolpersteine vor den letzten, freiwilligen Wohnsitzen in der Stadt an die Opfer des nationalsozialistischen Terrors – unter ihnen befinden sich ebenfalls zahlreiche Opfer, die deportiert wurden. Seit 2005 erhielten in Bielefeld mehr 214 Opfer somit einen dezentralen Gedenk- und Erinnerungsort.
Für eine Mahnung vor oder eine Erinnerung an die Täter, Bystander und Strukturen der Verfolgung (z.B. die Rolle der Verwaltung) sind bisher keine kritischen Gedenkorte in Bielefeld vorhanden. Es bleiben auch Zweifel, ob die Form der örtlichen Erinnerung angemessen ist oder ob sie sich in einen Täterkult transformieren könnten. Andere – vielleicht schriftliche – Formen des Erinnerns sind für die verstärkte Auseinandersetzung mit Tätern und Strukturen der Verfolgung vorerst zweckdienlicher.
Jan-Willem Waterböhr (2023)
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld