Die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD)

Haus an der Laerstraße 9, 1945. Seit 1939 Bezirksstelle der Reichsvereinigung der deutschen Juden (RVJD)
Haus an der Laerstraße 9, 1945. Seit 1939 Bezirksstelle der Reichsvereinigung der deutschen Juden (RVJD). Gedruckt: Vogelsang, Reinhard u.a. (Hrsg.), Im Zeichen des Hakenkreuzes. Bielefeld 1933-1945, Bielefeld 1986 (3. Auflage), S. 125
Max Ostwald, seit 1940 Vorsitzender der RDVJ in Bielefeld. Yad Vashem Photo Collections
Max Ostwald (1884-1943), seit 1940 Vorsitzender der RVJD in Bielefeld. Yad Vashem, Photo Collections, 14164678
Laerstraße 9, 33615 Bielefeld

Die Anfänge

Nach der nationalsozialistischen Gewaltaktion vom November 1938 verboten die Machthaber fast sämtliche jüdischen Organisationen, verwiesen jüdische Kinder aus den Schulen und schlossen Juden von der staatlichen Fürsorge aus. Ab Februar 1939 bildete sich mit der RVJD eine neue jüdische Selbstverwaltung heraus. Die bisherigen Landesverbände jüdischer Gemeinden wurden zu Bezirksstellen, so auch der Verband der westfälischen Gemeinden mit Sitz in Bielefeld.

Bereits im März 1938 waren die Synagogengemeinden zu Jüdischen Kultusvereinigungen umbenannt und dem Vereinsrecht unterworfen worden. Die Vorsteher dienten der RVJD als Vertrauensmänner vor Ort. Mitglied der Organisation musste jeder werden, der den nationalsozialistischen Rassekriterien zufolge als Jude galt (auch zum Christentum übergetretene Personen). Die RVJD unterstand ab September 1939 den Befehlen des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA).

Die Aufgaben

Die Organisation stand vor der finanziell immer stärker belastenden Aufgabe, die Fürsorge von Alten und Kranken zu gewährleisten. Sie betrieb jüdische Altersheime, in Bielefeld in der Stapenhorststraße 35. Die RVJD übernahm außerdem das jüdische Schulwesen. Als wichtigste Aufgabe gab das NS-Regime die Förderung der Auswanderung vor, die ihm bis zum Verbot im Oktober 1941 als die „Lösung der Judenfrage“ galt. Zur Förderung gehörte die sogenannte Berufsumschichtung, denn in vielen Aufnahmeländern waren vorwiegend Handwerks-, teilweise auch landwirtschaftliche Berufe gefragt. Es entstanden Umschulungseinrichtungen, 1939 in der Koblenzer Straße 4. Die Kapazitäten dort reichten nicht aus, es wurde ein Umschulungslager in der Schloßhofstraße 73a eingerichtet. Nebenher hatte die Bezirksstelle für die westfälischen Gestapostellen die permanente Erfassung ihrer Mitglieder zu gewährleisten.

Das Personal

Die Bezirksstelle begann ihre Tätigkeit unter der Leitung der Volkswirtin Dr. Rosa Karfiol (1899-1968). Stellvertreterin war die Leiterin der Fürsorgeabteilung, Sophie „Bela“ Koritzer (geb. 1900). Nach Ausscheiden und Emigration Karfiols Anfang 1940 rückte der Jurist Dr. Max Ostwald (1884-1943) aus Dortmund an die Spitze. Neben Schreib- und Bürokräften in der Fürsorge-, Finanz- oder „Wanderungsabteilung“ sind insbesondere der „Auswandererberater“ Adolf Stern (geb. 1904) und der für finanzielle Fragen zuständige Karl Heumann (geb. 1898) zu erwähnen.

Die „Verstrickung“

Letztlich war die RVJD mit ihren Bezirksstellen ein wesentliches Instrument des RSHA und der regionalen Gestapostellen bei der Durchsetzung der nationalsozialistischen Judenpolitik. Dabei blieben ihr nur minimale Spielräume. Ihr oblag es, die in rascher Folge erlassenen Verordnungen zur immer weiteren Einschränkung des alltäglichen Lebens (u.a. Abgabepflichten, Zuweisung in „Judenhäuser“, Ausgangsbeschränkungen, Kennzeichnung von Personen und Wohnungen) bekanntzugeben und für Einhaltung zu sorgen. Anderenfalls drohten „staatspolizeiliche Maßnahmen“.

Ab November 1941 wurde die Bezirksstelle mit ihren Vertrauensmännern schließlich zwangsweise zum Erfüllungsgehilfen bei der Abwicklung der Deportationen. Sie musste in Abstimmung mit den „Judenreferenten“ der Gestapo Vorarbeiten für die Listenerstellung leisten, die Betroffenen informieren („Deportationsbescheid“) und die Betreuung in den Sammelstellen übernehmen. Sie war außerdem verantwortlich für die Vermögenserklärungen, die es dem NS-Staat ermöglichten, nach der „Abschiebung“ noch vorhandenes Vermögen einzuziehen.

Die Endphase

Auf den Mitarbeitern lastete ein immenser Druck. Interne Spannungen blieben nicht aus. Ein Konflikt zwischen Dr. Max Ostwald und dem im Wesentlichen für die „Abwanderung“ zuständigen Adolf Stern wurde von der Gestapostelle Bielefeld „gelöst“, indem Ostwald kurzerhand dem Transport ins Ghetto Theresienstadt am 31. Juli 1942 zugeteilt wurde. Stern trat nun dessen Nachfolge an.

Nach Auflösung der Schulen und Heime wurden im März 1943 die Insassen der zu Arbeitseinsatzlagern umgewandelten Umschulungslager deportiert. Am 10. Juni 1943 wurden reichsweit die Büros, damit auch in Bielefeld, geschlossen. Die letzten Mitarbeiter der Bezirksstelle wurden am 29. Juni 1943 mit ihren Angehörigen nach Theresienstadt verschleppt. Niemand von ihnen kehrte zurück.

Spur aufgenommen und Recherche
Jürgen Hartmann

Literatur

  • Hartmann, Jürgen, Die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Bielefeld 1939-1943, in: Rosenland. Zeitschrift für lippische Geschichte, 25/2021, S. 68-151. URL
  • Hildesheimer, Esriel, Jüdische Selbstverwaltung unter dem NS-Regime, Tübingen 1994.
  • Meyer, Beate, Tödliche Gratwanderung. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland zwischen Hoffnung, Zwang, Selbstbehauptung und Verstrickung (1939-1945), Göttingen 2011.

Quellen

  • Bundesarchiv, Bestand R 8150 (Reichsvereinigung der Juden in Deutschland).
  • Internationaler Suchdienst Bad Arolsen, Bestand 1.2.4.1 (RVJD, Teilkarteien – digitalisiert).
  • Landesarchiv NRW Abt. Ostwestfalen-Lippe, Bestand D 109 Jüdische Kultusgemeinde Herford/Detmold (Unterlagen des RVJD-Vertrauensmanns für Herford von 1942 bis 1944, Hans Grabowski)
  • Yad Vashem Archiv, Bestand O.8 Nr. 257 (Nachlass Adolf Schreiber, RVJD-Vertrauensmann in Anröchte).
Veröffentlicht am und aktualisiert am 2. Oktober 2024

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