Verwertung jüdischer Haushalte durch das Finanzamt Bielefeld

Seit Sommer 1936 residierte das Bielefelder Finanzamt an der Ravensberger Straße 125; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-1676-6
Das Sachgebiet B V 5 übernahm die Verwaltung und Verwertung des Vermögens ausgewanderter und deportierter Jüdinnen und Juden; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,41/Nachlass Heinrich Knollmann, Nr. 5: Berufliche Unterlagen und Korrespondenz, 1934-1943; Enthält u. a.: Kriegsgeschäftsverteilungsplan des Finanzamtes Bielefeld, 1942
Im Rahmen der Vermögensverwaltung verwaltete das Finanzamt auch Immobilien der Deportierten; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, V 67
Acht Wochen nach der Auschwitz-Deportation v. 2. März 1943 fanden Auktionen in Garagen an der Rolandstraße statt; Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 7. Mai 1943
20. Januar 1942
Ravensberger Straße 25

Am 20. Januar 1942 begann in Bielefeld eine Serie von Auktionen, die in der Turnhalle der Bückardtschule startete, vor allem aber in der Versteigerungshalle Am Bach 12a stattfand. Mobiliar, Textilien und Haushaltsgegenstände der 80 am 13. Dezember 1941 vom Hauptbahnhof nach Riga deportierten Bielefelder Jüdinnen und Juden wurden meistbietend versteigert. In den sechs Wochen zwischen Deportation und Auktion hatte das Finanzamt mit beauftragten Gerichtsvollziehern die Wohnungen geräumt, die Habe auf Eigenbedarf geprüft und sie für die Versteigerungen taxiert. Darüber hinaus übernahmen die Finanzbeamten in ihrem 1936 eingeweihten Dienstgebäude in der Ravensberger Straße 125 die Verwaltung und Verwertung weiteren Vermögens: Immobilien, Aktien, Versicherungen, Bankguthaben etc.

Organisation des Vermögenszugriffs

Grundlage war die am 25. November 1941 erlassene 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz („Nürnberger Gesetze“), der zufolge Personen, die Deutschland dauerhaft verließen, ihre deutsche Staatsangehörigkeit verloren, während ihr Vermögen automatisch dem Reich verfiel. Damit war ein vereinfachter Zugriff auf das Vermögen der ausgewanderten, vor allem aber auf das der ab Herbst 1941 deportierten Jüdinnen und Juden ermöglicht, da die zuvor notwendigen Einzelentziehungsverfügungen (außer für die Theresienstadt-Deportationen) entfielen.

Die praktische Umsetzung fiel beim Finanzamt Bielefeld dem neu eingerichteten Abschnitt B V 5 („Verwaltung des dem Reich verfallenen Juden-Grundbesitzes“ und „Verwertung des dem Reich verfallenen Juden-Vermögens“) zu. Er organisierte den Entzug und die Verwertung einschließlich der Anmietung von Lager- und Versteigerungsräumen, hielt Kontakt zur Gestapo, zu Gerichtsvollziehern, Spediteuren und Stadtwerken, glich Vermögensverzeichnisse und vorgefundenes Inventar ab und übernahm die Wohnungs- und Hausverwaltung. Die Versteigerungen wickelten zunächst Gerichtsvollzieher, ab Sommer 1942 die Vollstreckungsstelle des Finanzamts ab, die die Einnahmen an die Finanzkasse abführte, von wo aus an die Oberfinanzkasse in Münster überwiesen wurde. Gewerbsmäßige Auktionatoren gab es in Bielefeld seinerzeit nicht.

Umfang und Bewertung des Vermögensentzugs

Das Finanzamt Bielefeld hatte zuvor bereits, wie andere Behörden auch, die Sondergesetzgebung gegen die jüdische Bevölkerung seit 1933 umgesetzt. Das Sachgebiet B V bearbeitete normalerweise u. a. die Vermögens- und die Grundsteuer sowie die 1931 eingeführte Reichsfluchtsteuer, die ursprünglich die chronisch finanzschwache Weimarer Republik vor Kapitalabfluss schützen sollte. Als das Regime ab 1933 jedoch vor allem die Juden zur Auswanderung drängte und gleichzeitig die Bemessungsgrenzen verschlechterte wurde die Reichsfluchtsteuer somit von einer ökonomischen Schutzmaßnahme zum ideologischen Ausbeutungsinstrument umgedeutet. Die den Juden als „Sühneleistungfür das Attentat auf den Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath (1909-1938) in Paris 1938 auferlegte „Judenvermögensabgabe“ sollte 1 Milliarde RM abpressen. Die westfälischen Finanzämter allein kassierten 25,5 Mio RM ein.

Die im Vergleich zu anderen westfälischen Finanzämtern hohen NSDAP-Mitgliederzahlen in Bielefeld (1939: 127) sind für den gesetzlich verordneten Vermögensentzug von untergeordneter Bedeutung: Die Ausplünderung der jüdischen Bevölkerung wäre genauso geschehen, wenn alle Beamten Mitglied gewesen wären oder kein einziger. Man kann, aber man muss nicht Nazi oder Antisemit sein, um als Beamter Juden auszuplündern. Genauso wenig muss man Nazi oder Antisemit sein, um bei einer Versteigerung ein Schnäppchen zu machen, dessen Herkunft offensichtlich sein musste. Diese „moralische Indifferenz“ (Bajohr) war verbreitet, schließlich kaufte man vom Finanzamt.

Spur aufgenommen und Recherche:
Dr. Jochen Rath
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

Literatur

  • Adler, Hans Günther, Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland, Tübingen 1974.
  • Asdonk, Jupp/Dagmar Buchwald/Lutz Havemann/Uwe Horst/Bernd J. Wagner (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“ – Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941 – 1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 24), Essen 2014 (2. Aufl.).
  • Bajohr, Frank, „Arisierung“ in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933-45, (Diss. 1997/98) Hamburg 1999.
  • Dreßen, Wolfgang, Betrifft: „Aktion 3“. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung, Berlin 1998.
  • Kenkmann, Alfons/Bernd-A. Rusinek (Hrsg.), Verfolgung und Verwaltung. Die wirtschaftliche Ausplünderung der Juden und die westfälischen Finanzbehörden, Münster 1999.
  • Kuller, Christiane, Bürokratie und Verbrechen. Antisemitische Finanzpolitik und Verwaltungspraxis im nationalsozialistischen Deutschland (Das Reichsfinanzministerium im Nationalsozialismus, Bd. 1), München 2013.
  • Schilde, Kurt, Bürokratie des Todes – Lebensgeschichten jüdischer Opfer des NS-Regimes im Spiegel von Finanzamtsakten, Berlin 2002.
  • Schmid, Hans-Dieter, „Finanztod“. Die Zusammenarbeit von Gestapo und Finanzverwaltung bei der Ausplünderung der Juden in Deutschland, in: Gerhard Paul/Klaus-Michael Mallmann (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000, S. 141-154.
  • Stengel, Katharina (Hrsg.), Vor der Vernichtung. Die staatliche Enteignung der Juden im Nationalsozialismus (Wissenschaftliche Reihe des Fritz-Bauer-Instituts, Bd. 15), Frankfurt am Main u. a. 2007.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, V 67
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,41/Nachlass Heinrich Knollmann, Nr. 5: Berufliche Unterlagen und Korrespondenz, 1934-1943; Enthält u. a.: Kriegsgeschäftsverteilungsplan des Finanzamtes Bielefeld, 1942
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 50: Westfälische Zeitung
  • Adressbücher Bielefeld 1938 und 1940
  • Überlieferung im Landesarchiv NRW, Abteilung Westfalen (Bestand Oberfinanzpräsident/Oberfinanzdirektion) und Abteilung Ostwestfalen-Lippe (Bestand Finanzamt Bielefeld)
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