1891 erwarb der Maurermeister Friedrich Gessner ein Grundstück und errichtete dort das Haus Wiesenstraße 13 (heute Werner-Bock-Straße). Nach mehreren Eigentümerwechseln kaufte es 1919 der jüdische Geschäftsmann Louis Ostwald, der sich 1907 mit einer Rohproduktenhandlung in Bielefeld selbständig gemacht hatte. Diesen Betrieb baute er aus und ließ dort mehrere gewerbliche Nebengebäude errichten. Im Wohnhaus lebte er zusammen mit seiner Frau Elise geb. Kahn und den drei Töchtern Irmgard, Ruth und Marga. Hinzu kamen 1929 Irmgards Ehemann Richard Baer und später die Enkelsöhne Heinz und Ruben. Ein Teil des Hauses wurde vermietet.
Wegen der zunehmenden Entrechtung der jüdischen Bevölkerung musste Louis Ostwald am 31. August 1938 den Geschäftsbetrieb aufgeben und war fortan auf Mieteinnahmen angewiesen. Deshalb ließ er im Oktober 1938 das größte Lagerhaus zu einer Großgarage umbauen, die er an den Kfz-Handwerksmeister Wilhelm Kastrup vermietete.
Ab 1939 bemühte sich Louis Ostwald um die Auswanderung seiner Familie. Die Verhandlungen um einen Hausverkauf an den Landkreis, der für die in der Straße gelegene Landwirtschaftsschule ein weiteres Gebäude suchte, scheiterten jedoch. Während die Töchter Ruth und Marga am 24. Juni 1939 nach England ausreisen konnten, wurde das Haus nach dem Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden vom 30. April 1939 sukzessive zum „Judenhaus“, auch wenn ein behördlicher Einfluss bei den Einzügen nicht nachweisbar ist.
Zu den jüdischen Bewohnern zählte bis dahin außer der Familie Ostwald /Baer nur der bereits seit 1923 dort wohnende Alfred Levy. Hinzu kamen nun – sich zeitlich teilweise überlappend – die jüdischen Familien Koppel, Rosenthal, Davidsohn, Levy und Hammerschlag. Von Juni bis Dezember 1941 lebten 17 Personen im Haus. Die Übersicht erinnert und würdigt alle Personen und ihr weiteres Schicksal.
Am 6. Dezember 1941 wurde Wilhelm Kastrup neuer Eigentümer des Grundstückes, auf dem er seit 1939 zusätzlich eine Fahrzeugvermietung und Fahrschule betrieb. Auf Anordnung der Devisenstelle Münster zahlte er den Kaufpreis auf das Commerzbank-Konto von Louis Ostwald ein. Dieser hatte jedoch keinen Zugriff auf das Geld, da Konten von Juden gesperrt waren. Ostwalds, Baers und Alfred Levy lebten zunächst weiterhin in der Wiesenstraße, mussten aber am 20. Mai 1942 in das „Judenhaus“ Detmolder Str. 4 ziehen. Von da an wohnten in der Wiesenstraße 13 keine jüdischen Menschen mehr.
Am 31. Juli 1942 wurden das Ehepaar Ostwald sowie Irmgard Baer mit ihren Kindern nach Theresienstadt deportiert. Louis Ostwald ist dort am 11. Oktober 1942 umgekommen, seine Frau Elise wurde am 15. April 1944 in Auschwitz ermordet. Irmgard Baer und ihre beiden Söhne Heinz und Ruben wurden ebenfalls in Auschwitz sofort nach ihrer Ankunft am 9. Oktober 1944 in den Gaskammern umgebracht.
Nach Kriegsende beantragten die Ostwald- Töchter Ruth Barsford und Marga Grünewald die Rückerstattung ihres Elternhauses. Das Verfahren vor der Wiedergutmachungskammer des Landgerichts Bielefeld endete jedoch am 12. Mai 1953 mit einem Vergleich.
1956 verkaufte Wilhelm Kastrup das Hausgrundstück an die Stadt Bielefeld. Die einzelnen Wohnungen wurden vermietet, wobei die Bielefelder Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft ab 1969 die treuhänderische Verwaltung übernahm. Die Jüdische Kultusgemeinde listete das Haus am 5. Januar 1968 gegenüber dem städtischen Amt für Wiedergutmachung als „Judenhaus“. Am 4. September 2002 erwarb die „Sozial-Aktien-Gesellschaft Bielefeld“ (heute „Stiftung Solidarität“) das Hausgrundstück und nutzt es seither für gemeinnützige Zwecke).
Zur Erinnerung an die Eigentümerfamilie wurden Stolpersteine am 18. Juni 2022 für Richard und Irmgard Baer und ihre Söhne Heinz und Ruben sowie am 8. November 2023 für Louis und Elise Ostwald und ihre Töchter Ruth und Gerda verlegt.
Spur aufgenommen und Recherche
Helga Kübler
Geschichtswerkstatt der VHS Bielefeld