Die Deportation nach Riga am 13. Dezember 1941 war die erste Abschiebung von Jüdinnen und Juden aus Ostwestfalen-Lippe. Es geschah am helllichten Tag: Am 10. Dezember trafen die ersten Jüdinnen und Juden, die zwei Tage später deportiert wurden, im Sammellager „Kyffhäuser“ am Kesselbrink ein, einem belebten Platz mitten in der Stadt. Dieses ‚Ereignis‘ blieb in der Bevölkerung nicht unbemerkt, obwohl die gleichgeschalteten Tageszeitungen nicht über diese bevorstehende Aktion berichteten. Der „Kyffhäuser“ wurde für jedermann sichtbar von Gestapobeamten in Ledermäntel „bewacht“ und Straßenbahnen der Linie 3 fuhren regelmäßig an der Gaststätte und dem Versammlungshaus vorbei. Schülerinnen und Schüler der benachbarten Schulen versuchten beim Vorbeigehen, einen Blick in das Lokal zu werfen, aber sie wurden von den Beamten angeraunzt und aufgefordert schnell weiterzugehen.
Es gehörte zu den Aufgaben der Ordnungs- und Kriminalpolizei, unter Aufsicht der ‚Geheimen Staatspolizei‘ (Gestapo), den Zugang zu dem Sammellager zu kontrollieren und dafür zu sorgen, dass niemand das Lokal unerlaubt verließ.
Die Gestapo gab mit ihren „Richtlinien für die Evakuierung von Juden“ Ort und Tag vor, an dem sich die zu „Ausreise“ genötigten Menschen „zur Durchschleusung“ (NS-Jargon) in einem Sammellager einfinden mussten.
Rudolf Koch (2016a) zitiert aus einem Schreiben der Gestapo in Münster – Außenstelle Bielefeld vom 12. November 1941 in seinen Artikeln über die Deportation einer jüdischen Familie aus Altenbeken:
„Die zur Abschiebung bestimmten Juden sind am 10. Dezember 1941 in ihren Wohnungen abzuholen und bis 16.00 Uhr nach Bielefeld zum Kyffhäuser am Kesselbrink (Großer Saal) zu überführen. Die Transporte sind mit der Eisenbahn durchzuführen. Bargeld, Wertgegenstände sind einzuziehen. Die Judenwohnungen sind zu versiegeln.“
Weiter schreibt er (2016b):
„Gemeinsam mit Juden aus Bad Lippspringe und Paderborn, insgesamt 76 (…) musste sich auch die Altenbekener Familie Ikenberg bis 11.30 Uhr erst einmal an der Sammelstelle Paderborn einfinden. (…) Der um 14.30 Uhr am Hauptbahnhof Paderborn eingesetzte Zug mit Juden aus dem Kreis Büren nahm die Wartenden am Nordbahnhof, abseits von städtischer Besiedlung, auf. In Begleitung von zwei Oberwachtmeistern und vier Hauptwachmeistern erfolgte der Transport nach Bielefeld. Um Aufsehen zu vermeiden hatten die Beamten ausdrücklich Zivilkleidung zu tragen. Im Saal der Gaststätte “Kyffhäuser” sammelten sich die ersten Opfer aus Bielefeld und Orten der Umgebung, die von der Gestapo zur weiteren bürokratischen Abwicklung der Deportation übernommen wurden.“
Am gleichen Tag mussten auch Berta und Artur Sachs ihre Wohnung im „Judenhaus“ in der Lützowstraße 10 in Bielefeld (heute: Karl-Eilers-Straße) verlassen und wurden mit anderen Schicksalsgefährten von Mitgliedern der Ordnungspolizei und der Gestapo zur „Sammelstelle“ am Kesselbrink gebracht. Wahrscheinlich haben sie diesen etwa zehn Minuten Weg direkt durch die Innenstadt zu Fuß zurückgelegt.
In den 1980er Jahren beschreibt das Ehepaar, das die Shoah überlebte, in Interviews und in ihren Lebenserinnerungen rückblickend:
„Ende November 1941 bekamen wir den Bescheid, dass wir 14 Tage später ‚umgesiedelt‘ werden sollten. In Riga, so war das formuliert, hätten wir die Möglichkeit ‚neu zu siedeln.‘“
Berta Sachs: „Da wurde manches vorbereitet. Der Chef der Firma schrieb nach Berlin, daß sein Betrieb ein kriegswichtiger Betrieb und Sachs erste Kraft an der Drehbank sei.“ Dieser Aufschub wurde nicht gewährt. Artur Sachs:
„Am 10. Dezember 1941 mußten wir alles stehen und liegenlassen. Zusammen durften wir 100 Pfund Gepäck mitnehmen. Meine Frau und ich waren sehr vorsichtig und nahmen nur 95 Pfund mit. Unsere Wohnung in der Lützowstraße wurde versiegelt. (…)”
Die Deportationsbescheide gaben vor, dass es sich um einen „Arbeitseinsatz im Osten“ handelte, für den vor allem warme Kleidung, Decken und gute Schuhe benötigt wurden. Die Deportierten durften aber nur Handgepäck, eine Wolldecke und Verpflegung für acht Tage mit in den Zug nehmen. Die größeren Gepäckstücke wurden direkt nach der Ankunft im Sammellager beschlagnahmt mit dem Versprechen, dass alle Sache nachgeschickt würden. Die Menschen wurden bewusst getäuscht. An den Zielorten sahen sie ihre Habseligkeiten nicht wieder. Außerdem wurden alle zur Deportation bestimmten Juden gezwungen eine Vermögenserklärung abgegeben. Erlaubt war anfangs die Mitnahme von 100 Reichsmark aber die Summe wurde schon bald auf 50 Reichsmark gesenkt. Vor der Abreise mit dem Zug nahm die Gestapo noch einmal Leibesvisitationen und gründliche Gepäckkontrollen vor.
Spur aufgenommen und Recherche
Lutz Havemann
Initiativkreis Erinnern & Gedenken in OWL