Am 5. Januar 1968 listete die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld gegenüber dem städtischen Amt für Wiedergutmachung insgesamt 19 „Judenhäuser“ alphabetisch auf. Ganz am Ende erschien das Haus Wertherstraße 6.
Die Witwe Amalie Brune hatte es 1900 durch den Baumeister Alexander Trappen (1853-1930) errichten lassen. 1910 zogen der Bankier Hermann Paderstein (1840-1921) und seine Ehefrau Franziska Paderstein geb. Corsmann (1845-1921) als Mieter ein, 1916 kauften sie das Haus. Nach deren Tod wurde deren Sohn Ernst Paderstein (1873-1942) Eigentümer. Er war Bezirksdirektor der Albingia-Versicherung und von 1916 bis 1933 Schatzmeister des Deutschen Alpenvereins, Sektion Bielefeld. Am 31. Juli 1942 wurde Ernst Paderstein von seinem Wohnhaus aus nach Theresienstadt deportiert, wo er am 7. Oktober 1942 verstarb.
Am 18. Oktober 1939 zeigte Paderstein dem Wohnungsamt an, das Erdgeschoss vermieten zu wollen. Dem wurde nach einer Ortsbesichtigung am 14. Dezember 1939 entsprochen. Mit dem Einzug jüdischer Mieter am 30. Mai 1940 wurde Wertherstraße 6 zum „Judenhaus“. Das Kommen und Gehen danach spielte sich zwischen behördlich angeordneten Wohnungszuweisungen und staatlich organisierten Deportationen ab. Bei drei bis sieben Bewohnern gleichzeitig trat zwar keine Überbelegung ein, aber es muss ein Klima der Angst vor dem Abtransport geherrscht haben, das William Neuberg am 21. Juli 1942 im Haus in den Selbstmord trieb.
Nach einer erneuten Hausbesichtigung mit dem NSV-Kreisamtsleiter Friedrich Hille (1901-1977) im Juli 1941 hatte das Grundstücksamt festgestellt, dass eine Wohnung von Paderstein „abgetreten werden könne bzw. müsse“. Ende September erhielt Erna Loevinsohn (1892-1942), Dornberger Straße 2, zwar die Nachricht, kurzfristig nach Kuba auswandern zu können, musste aber trotzdem noch nach Wertherstraße 6 umziehen, um einer Familie Platz zu machen, die nach den Luftangriffen im Juni/Juli 1941 als „bombengeschädigt“ galt. Nachdem ihre Ausreise scheiterte, flüchtete Erna Loevinsohn am 29. April 1942 nach Belgien, wo die SS sie festnahm und der Gestapo überstellte. Am 5. September 1942 wurde sie von Berlin nach Riga verschleppt und dort drei Tage später erschossen.
Vom Haus Wertherstraße 6 wurden Martha Silberstein geb. Stein verw. Oppenheimer, Minna Stein und das Ehepaar Ernst und Susanne Stein am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Das Verladen der Habe dieser Deportierten beobachtete Museumsleiter Eduard Schoneweg (1886-1969) aus dem Städtischen Museum gegenüber.
Hauseigentümer Ernst Paderstein, die Eheleute Julius und Aenne Mosberg, Martha Greve geb. Zernitz, Johanna Löwy geb. Brandenstein und Sophie Einstein wurden am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt.
Nach der Räumung des Hauses wohnte dort vom 19. März 1943 an der ehemalige Chef des Bielefelder Finanzamts, das die „Verwertung“ jüdischen Vermögens organisierte. Regierungsdirektor Walther Heinemann (1875-1946) hatte nach seiner Pensionierung im Sommer 1942 seine Dienstwohnung aufgeben müssen. Als neue Immobilieneigentümerin bot die Finanzverwaltung ihm Wertherstraße 6 zur Miete an, nachdem das Regierungsbauamt in Minden im Februar 1943 den Leerstand angesichts von Wohnungsmangel moniert hatte. Ernst Padersteins Hausrat war nach seiner Deportation bis zum 20. März 1943 (der Tag nach Heinemanns Einzug) an Private in Einzelpositionen veräußert worden. Ob überhaupt und mit welcher Summe Heinemann beteiligt war (die Buchung am Tag nach seinem Einzug spricht dafür), lässt sich nicht feststellen.
Als dem späteren Theater-Verwaltungsdirektor Paul-Gerhard Bohrenkämpfer (1935-2019) im städtischen Wohnungsamt 1960 der Haus-Grundriss des Reichsbauamts von 1943 vorgelegt wurde, unterstrich er die ursprüngliche Bezeichnung „Judengrundstück“ mehrfach und fragte offensichtlich entrüstet: „Was ist das?“
Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Jochen Rath (Erstversion )
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld
Ergänzende Recherchen
Andreas Martin Vohwinkel M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld