Das Haus Wertherstraße 6 wird zum „Judenhaus“

Haus in der Wertherstraße 6
Wertherstraße 6, 2013. Stadtarchiv Bielefeld, unverzeichnet.
Ernst Paderstein
Ernst Paderstein (1873-1942) war seit 1921 Eigentümer. Festschrift zum 70jährigen Bestehen der Sektion Bielefeld des Deutschen Alpenvereins, Herford 1963, S. 33.
Beobachtungen von Eduard Schoneweg in der Bielefelder Kriegschronik
Eduard Schoneweg (1886-1969) beobachtete das Verladen der Habe der Riga-Deportierten aus Wertherstr. 6. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld, Bd. 4.
Der „Judengrundstück“-Plan des Reichsbauamts von 1943
Der „Judengrundstück“-Plan des Reichsbauamts von 1943 sorgte 1960 für Verwunderung. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,10/Amt für Wohnungswesen, Nr. 2095: Wohnungsangelegenheiten Wertherstraße.
30. Mai 1940
Wertherstraße 6a, 33615 Bielefeld

Das Haus und seine Eigentümer

Am 5. Januar 1968 listete die Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld gegenüber dem städtischen Amt für Wiedergutmachung insgesamt 19 „Judenhäuser“ alphabetisch auf. Ganz am Ende erschien das Haus Wertherstraße 6.

Die Witwe Amalie Brune hatte es 1900 durch den Baumeister Alexander Trappen (1853-1930) errichten lassen. 1910 zogen der Bankier Hermann Paderstein (1840-1921) und seine Ehefrau Franziska Paderstein geb. Corsmann (1845-1921) als Mieter ein, 1916 kauften sie das Haus. Nach deren Tod wurde deren Sohn Ernst Paderstein (1873-1942) Eigentümer. Er war Bezirksdirektor der Albingia-Versicherung und von 1916 bis 1933 Schatzmeister des Deutschen Alpenvereins, Sektion Bielefeld. Am 31. Juli 1942 wurde Ernst Paderstein von seinem Wohnhaus aus nach Theresienstadt deportiert, wo er am 7. Oktober 1942 verstarb.

Zuweisungen und zerstörte Hoffnungen

Am 18. Oktober 1939 zeigte Paderstein dem Wohnungsamt an, das Erdgeschoss vermieten zu wollen. Dem wurde nach einer Ortsbesichtigung am 14. Dezember 1939 entsprochen. Mit dem Einzug jüdischer Mieter am 30. Mai 1940 wurde Wertherstraße 6 zum „Judenhaus. Das Kommen und Gehen danach spielte sich zwischen behördlich angeordneten Wohnungszuweisungen und staatlich organisierten Deportationen ab. Bei drei bis sieben Bewohnern gleichzeitig trat zwar keine Überbelegung ein, aber es muss ein Klima der Angst vor dem Abtransport geherrscht haben, das William Neuberg am 21. Juli 1942 im Haus in den Selbstmord trieb.

Nach einer erneuten Hausbesichtigung mit dem NSV-Kreisamtsleiter Friedrich Hille (1901-1977) im Juli 1941 hatte das Grundstücksamt festgestellt, dass eine Wohnung von Paderstein „abgetreten werden könne bzw. müsse“. Ende September erhielt Erna Loevinsohn (1892-1942), Dornberger Straße 2, zwar die Nachricht, kurzfristig nach Kuba auswandern zu können, musste aber trotzdem noch nach Wertherstraße 6 umziehen, um einer Familie Platz zu machen, die nach den Luftangriffen im Juni/Juli 1941 als „bombengeschädigt“ galt. Nachdem ihre Ausreise scheiterte, flüchtete Erna Loevinsohn am 29. April 1942 nach Belgien, wo die SS sie festnahm und der Gestapo überstellte. Am 5. September 1942 wurde sie von Berlin nach Riga verschleppt und dort drei Tage später erschossen.

Vom Haus Wertherstraße 6 wurden Martha Silberstein geb. Stein verw. Oppenheimer, Minna Stein und das Ehepaar Ernst und Susanne Stein am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert. Das Verladen der Habe dieser Deportierten beobachtete Museumsleiter Eduard Schoneweg (1886-1969) aus dem Städtischen Museum gegenüber.

Hauseigentümer Ernst Paderstein, die Eheleute Julius und Aenne Mosberg, Martha Greve geb. Zernitz, Johanna Löwy geb. Brandenstein und Sophie Einstein wurden am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt verschleppt.

Ein neuer Mieter

Nach der Räumung des Hauses wohnte dort vom 19. März 1943 an der ehemalige Chef des Bielefelder Finanzamts, das die „Verwertung“ jüdischen Vermögens organisierte. Regierungsdirektor Walther Heinemann (1875-1946) hatte nach seiner Pensionierung im Sommer 1942 seine Dienstwohnung aufgeben müssen. Als neue Immobilieneigentümerin bot die Finanzverwaltung ihm Wertherstraße 6 zur Miete an, nachdem das Regierungsbauamt in Minden im Februar 1943 den Leerstand angesichts von Wohnungsmangel moniert hatte. Ernst Padersteins Hausrat war nach seiner Deportation bis zum 20. März 1943 (der Tag nach Heinemanns Einzug) an Private in Einzelpositionen veräußert worden. Ob überhaupt und mit welcher Summe Heinemann beteiligt war (die Buchung am Tag nach seinem Einzug spricht dafür), lässt sich nicht feststellen.

Als dem späteren Theater-Verwaltungsdirektor Paul-Gerhard Bohrenkämpfer (1935-2019) im städtischen Wohnungsamt 1960 der Haus-Grundriss des Reichsbauamts von 1943 vorgelegt wurde, unterstrich er die ursprüngliche Bezeichnung „Judengrundstück“ mehrfach und fragte offensichtlich entrüstet: „Was ist das?“

Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Jochen Rath (Erstversion )
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

Ergänzende Recherchen
Andreas Martin Vohwinkel M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

Literatur

  • Adler, Hans Günter, Der verwaltete Mensch, Tübingen 1974.
  • Deutscher Alpenverein – Sektion Bielefeld, Festschrift zum 70jährigen Bestehen der Sektion Bielefeld des Deutschen Alpenvereins 1893-1963, Bielefeld 1963.
  • Kreie, Ralf-Oliver, Der Weg des Deutschen und Österreichischen Alpenvereins (DuOeAV) in die nationalsozialistische Diktatur – dargestellt am Beispiel ausgewählter westfälischer Sektionen, (Examensarbeit) Münster 2010. URL
  • Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 3), Bielefeld 1983.
  • Schneider, Hubert, Die Entjudung des Wohnraums – Judenhäuser in Bochum. Die Geschichte der Gebäude und ihrer Bewohner (Schriften des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte, Nr. 4), Berlin 2010.
  • Wagner, Bernd J., Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 24), Bielefeld 2012, S. 70-127.

Quellen

  • Landesarchiv NRW, Abteilung Ostwestfalen-Lippe, D 26/Finanzamt Bielefeld-Innenstadt, Nr. 240: Kassenbuch der am 31. Juli 1942 deportierten Juden, 1942.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 551: Wohnungsangelegenheiten jüdischer Personen, 1939-1942.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1626: Hausbuch Werther Straße 6.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 108,10/Amt für Wohnungswesen, Nr. 2095: Wohnungsangelegenheiten Wertherstraße.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, Stadt, C 52: Entschädigung von Freiheitsbeschränkung durch Aufenthalt in sog. Judenhäusern.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 27.5.1939 URL; Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 27.5.1939. URL
Veröffentlicht am und aktualisiert am 13. August 2024

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