Am 31. Juli 1942 gegen Mitternacht verließ der Deportationszug Da 77 Münster und fuhr über Osnabrück und Bielefeld nach Theresienstadt. Es war der vierte Deportationszug über Bielefeld zur „Umsiedlung“ von Jüdinnen und Juden. Die Nationalsozialisten verschleierten damit sprachlich einen zentralen Baustein des Holocaust.
In Bielefeld mussten 590 Personen zusteigen. Sie erreichten den Bahnhof Bohosovice (ehem. Tschechoslowakei) am 1. August. Anschließend mussten sie den 2,5 Kilometer langen Fußmarsch in das „Altersghetto“ Theresienstadt (heute: Terezin) antreten. Die Deportation zur Vernichtung haben nur 48 Personen überlebt, elf stammten aus Bielefeld.
Mit dem Zug wurden insgesamt 901 Jüdinnen und Juden deportiert. Allein 590 stammten aus dem Gestapo-Unterbezirk Bielefeld (Regierungsbezirk Minden, Lippe und Schaumburg-Lippe) – 150 von ihnen waren in Bielefeld als wohnhaft registriert (Liste). Mehr als 4/5 der Männer und Frauen waren älter als 60 Jahre. Unter ihnen befanden sich auch die Leiterin des Jüdischen Altersheims Margarete Feist und der Bezirksleiter Dr. Max Ostwald sowie der Vertrauensmann Max Hirschfeld der RVJD in Bielefeld. Mit ihnen wurde ein bedeutender Teil der jüdischen Selbstorganisation in Bielefeld ausgelöscht. Erstmalig wurden auch Partnerinnen und Partner aus Mischehen deportiert.
Der Ablauf wird sich nicht wesentlich von den bekannten Deportationen nach Riga (1941) und Warschau (1942) unterschieden haben: Die zur Deportation bestimmten Personen wurden ab dem 27. Juli von der Gestapo zu Hause abgeholt. Handgepäck mit maximal 25kg und Reiseproviant für wenige Tage waren erlaubt, vorhandene Wertsachen und ihre weitere Habe wurde ihnen abgenommen. Ihr Besitz wurde konfisziert und von den Finanzämtern versteigert. Sie wurden anschließend im völlig überfüllen Veranstaltungssaal des Kyffhäusers untergebracht. Deshalb wurde eine zweite Sammelstelle im Gesellschaftshaus „Eintracht“ in der Ritterstr. 37 (heute etwa Ritterstraße 1) wurde eingerichtet. Über die dortigen Zustände der Unterbringung ist bisher wenig bekannt – sie dürften jedoch ähnlich katastrophal gewesen sein. Wahrscheinlich starb eine Person während des Aufenthalts im Kyffhäuser. In der Nacht zum 31. Juli 1942 führte ihr Fußweg von den Sammelstellen quer durch die Stadt zum Haupt- und Güterbahnhof – für alle Bielefelderinnen und Bielefelder sichtbar.
Vor dem 31. Juli 1942 nahmen sich mutmaßlich sechs Personen selbst das Leben – vermutlich sogar bis zu zehn Personen. Vor der Deportation nach Riga ist ein Suizid bekannt. Der sprunghafte Anstieg der Suizide lässt die Verzweiflung der Jüdinnen und Juden nur erahnen. Viele hatten per Post Kenntnis über die Zustände von Nachbarn, Freunden oder Familienangehörigen aus den „Judenghettos“ in Riga, Warschau und Theresienstadt erhalten. Ihnen wurde zunehmend bewusst, dass es sich nicht nur um eine „Umsiedlung“ oder ein „Arbeitseinsatz im Osten“ handelte, sondern der Weitertransport in die Konzentrations- und Vernichtungslager oder der Tod vor Ort auf sie wartete.
Im Vergleich zu den vorherigen Deportationen aus Bielefeld ist die Ankunftsliste aus Theresienstadt erhalten. Daher lassen sich die Opferzahlen und die Namen der Deportierten relativ leicht ermitteln.
Heute erinnert das Mahnmal „Jede Deportierte, jeder Deportierte hat einen Namen“ vor dem Hauptbahnhof an die aus Bielefeld deportierten Jüdinnen und Juden aus Ostwestfalen Lippe und Schaumburg-Lippe.
Spur aufgenommen und Recherche
Jan-Willem Waterböhr M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld