Deportation von Jüdinnen und Juden aus Bielefeld in das Warschauer Ghetto

Zerbombte Straßenzüge des Warschauer Ghettos, in denen tausende Menschen zusammengepfercht wurden.
Zerbombte Straßenzüge des Warschauer Ghettos, in denen tausende Menschen zusammengepfercht wurden. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/Fotosammlung, Nr. 95-013-136.
Geschwister Rose – sie wurden am 31.03. 1942 in das Warschauer Ghetto deportiert.
Geschwister Ilse (r.) und Margot (l.) Rose – sie wurden am 31.03. 1942 in das Warschauer Ghetto deportiert. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,003/Fotosammlung, Nr. 95-013-136.
Flugblatt des Antifaschistischen Aktionskreises Bielefeld zur Ausstellung „Warschauer Ghetto. Der Weg der Deutschen nach Polen und seine Folgen“, 1980.
Flugblatt des Antifaschistischen Aktionskreises Bielefeld zur Ausstellung „Warschauer Ghetto. Der Weg der Deutschen nach Polen und seine Folgen“, 1980. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,001/Jüdische Gemeinde, Nr. 17.
31. März 1942
Europa Platz/HBF, 33613 Bielefeld

Am 31. März 1942 fand die zweite Deportation von Jüdinnen und Juden aus Bielefeld statt.  Der erste („Koppelzug“) von insgesamt vier Zügen dieser Welle aus dem Deutschen Reich startete in Gelsenkirchen und fuhr über Münster, Bielefeld, Hannover und Braunschweig. Die drei weiteren Züge kamen aus Theresienstadt und Berlin. Ziel aller Züge war das Ghetto in Warschau.

Anweisung zur „Evakuierung“

Am 20. März 1942 erhielt die Außenstelle Bielefeld der Geheimen Staatspolizei Münster die Anweisung, 325 Juden (aus dem Regierungsbezirk Minden und den Ländern Lippe und Schaumburg-Lippe) zu stellen: Insgesamt sollten 1000 Jüdinnen und Juden aus dem Zuständigkeitsbereich Hannover „in den Osten evakuiert“ werden. Die aufgeführten „Richtlinien“ enthalten penible und genaue Anweisungen, wie die Vorbereitungen durchgeführt werden sollten: Von der Unterbringung im Kyffhäuser und hygienischen Bedingungen über die Beschlagnahmung von Wertgegenständen bis hin zur Versiegelung der Wohnungen. Abschließend weist das Dokument aus:

Im Übrigen ist für eine reibungslose Durchführung des Abtransports Sorge zu tragen. Belästigungen seitens der deutschblütigen Bevölkerung sind zu vermeiden.“ (Meynert/Schäffer 1983, S. 188)

Von Gelsenkirchen über Bielefeld und Hannover in das Warschauer Ghetto

Am 31. März 1942 um 15:30 Uhr verließ der „Koppelzug“ (Sonderzug der Reichsbahn ‚Da 6‘) den Hauptbahnhof Bielefeld. Das ursprüngliche Ziel war Trawniki bei Lublin. Die Züge wurden jedoch kurzfristig in das überfüllte Warschauer Ghetto umgeleitet – die Gründe sind nicht bekannt.

In Bielefeld wurden 316 bis 325 Jüdinnen und Juden gezwungen einzusteigen, die Angaben schwanken. Sie waren zuvor mit Bussen und Zügen nach Bielefeld gebracht worden. Unter ihnen waren 44 Personen, welche in Bielefeld als wohnhaft registriert waren (Namensliste). Die Anzahl wurde von der Gestapo bestimmt, zur Auswahl der Personen wurde die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) in Westfalen gezwungen. Partner aus „Mischehen“ sowie über 65-Jährige waren ausgeschlossen. Am 30. März 1942 bis 12:00 Uhr wurden sie in ihren Wohnungen abgeholt und mit den anderen Jüdinnen und Juden im Kyffhäuser einquartiert. Ihre Häuser und Wohnungen wurden versiegelt, ihr zurückgebliebener Besitz größtenteils unter der Verantwortung des Finanzamts in Bielefeld beschlagnahmt und versteigert.

Es durften lediglich 25kg Reisegepäck und zwei Schlafdecken sowie Proviant mitgenommen werden. Ihr geringes Gepäck wurde im Kyffhäuser kontrolliert, Wertsachen und persönliche Papiere wurden von der Gestapo einkassiert.

Der Zug traf verspätet in den frühen Mordenstunden des 2. Aprils 1942 in Warschau ein. Der letzte Vorsitzende des Warschauer Judenrats, Adam Czerniaków (1880-1942), notiert dazu in seinem Tagebuch:

Etwa 1000 Deportierte […]. [Sie] haben nur kleine Gepäckstücke mitgebracht. Den über 68 Jahre Alten hatte man erlaubt in Deutschland zu bleiben. Alte Leute, viele Frauen, kleine Kinder.“ (nach Gottwald/Schulle 2005, S. 189).

Überlebende und Forschung

Nach heutigem Kenntnisstand überlebte nur eine Person die Deportation aus Bielefeld: Robert Levi aus Schlangen – nach Kriegsende konnte er als Zeuge im Treblinka-Prozess aussagen. Für die übrigen bedeutete das Ghetto in Warschau einen Zwischenaufenthalt und weitere Selektionen. Sie wurden vermutlich überwiegend in den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec oder Sobibor systematisch ermordet oder starben unter unmenschlichen Bedingungen – einige mussten zuvor beim Aufbau des Lagers Treblinka helfen.

Eine offizielle Liste der zu Deportierenden ist nicht überliefert. Die Identifizierung der Namen ist nach wie vor eine Herausforderung und nicht abgeschlossen. In den Bielefelder Meldekarten sind häufig nur „nach Osten“ oder ähnlich verschleiernde Angaben vermerkt worden. Die Aufarbeitung der Deportation nach Warschau ist von vielen Gruppen und Initiativen begonnen worden. So organisierte beispielsweise 1980 der Antifaschistische Arbeitskreis Bielefeld in der Stadtbibliothek eine Ausstellung, 2005 folgte die Wanderausstellung „Oneg Shabbat – Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“ in der Volkshochschule Bielefeld. Auch die Gedenkstätte Zellentrakt in Herford widmet sich der weiteren Aufarbeitung.

Spur aufgenommen und Recherche
Jan-Willem Waterböhr M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld
Irith Michelsohn, Paul Yuval Adam
Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld

Literatur

  • Gottwald, Alfred / Schulle, Diana, Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1945. Eine kommentierte Chronologie, Wiesbaden 2005.
  • Hartmann, Jürgen, Die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Bielefeld 1939 bis 1943, in: Rosenland 25 (2021), S. 68-152. URL
  • Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 1983.
  • Minninger, Monika / Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm (Hrsg.), Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 4) Bielefeld 1985.
  • Minninger, Monika / Stüber, Anke / Klussmann, Rita, Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld, Bielefeld 1988.
  • Niemann, Ursula, Liste der um 1933 in Bielefeld ansässig gewesenen Juden und ihre Schicksale sowie ein Überblick über die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Bielefeld, Bielefeld 1972.
  • Wagner, Bernd J., Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 24), Bielefeld 2012, S. 70-127.

Quellen

  • Anweisung der Geheimen Staatspolizei Münster an die Außendienststelle Bielefeld (20.03.1942), gedruckt in: Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 1983, Nr. 81, S. 187 f.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 200,010/Jüdische Gemeinde, Nr. 17.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,010/Zeitgeschichtliche Sammlung, Nr. 3193.
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,018/Ausstellungen, Nr. 14.
Veröffentlicht am und aktualisiert am 13. September 2022

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