Am 31. März 1942 fand die zweite Deportation von Jüdinnen und Juden aus Bielefeld statt. Der erste („Koppelzug“) von insgesamt vier Zügen dieser Welle aus dem Deutschen Reich startete in Gelsenkirchen und fuhr über Münster, Bielefeld, Hannover und Braunschweig. Die drei weiteren Züge kamen aus Theresienstadt und Berlin. Ziel aller Züge war das Ghetto in Warschau.
Am 20. März 1942 erhielt die Außenstelle Bielefeld der Geheimen Staatspolizei Münster die Anweisung, 325 Juden (aus dem Regierungsbezirk Minden und den Ländern Lippe und Schaumburg-Lippe) zu stellen: Insgesamt sollten 1000 Jüdinnen und Juden aus dem Zuständigkeitsbereich Hannover „in den Osten evakuiert“ werden. Die aufgeführten „Richtlinien“ enthalten penible und genaue Anweisungen, wie die Vorbereitungen durchgeführt werden sollten: Von der Unterbringung im Kyffhäuser und hygienischen Bedingungen über die Beschlagnahmung von Wertgegenständen bis hin zur Versiegelung der Wohnungen. Abschließend weist das Dokument aus:
„Im Übrigen ist für eine reibungslose Durchführung des Abtransports Sorge zu tragen. Belästigungen seitens der deutschblütigen Bevölkerung sind zu vermeiden.“ (Meynert/Schäffer 1983, S. 188)
Am 31. März 1942 um 15:30 Uhr verließ der „Koppelzug“ (Sonderzug der Reichsbahn ‚Da 6‘) den Hauptbahnhof Bielefeld. Das ursprüngliche Ziel war Trawniki bei Lublin. Die Züge wurden jedoch kurzfristig in das überfüllte Warschauer Ghetto umgeleitet – die Gründe sind nicht bekannt.
In Bielefeld wurden 316 bis 325 Jüdinnen und Juden gezwungen einzusteigen, die Angaben schwanken. Sie waren zuvor mit Bussen und Zügen nach Bielefeld gebracht worden. Unter ihnen waren 44 Personen, welche in Bielefeld als wohnhaft registriert waren (Namensliste). Die Anzahl wurde von der Gestapo bestimmt, zur Auswahl der Personen wurde die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) in Westfalen gezwungen. Partner aus „Mischehen“ sowie über 65-Jährige waren ausgeschlossen. Am 30. März 1942 bis 12:00 Uhr wurden sie in ihren Wohnungen abgeholt und mit den anderen Jüdinnen und Juden im Kyffhäuser einquartiert. Ihre Häuser und Wohnungen wurden versiegelt, ihr zurückgebliebener Besitz größtenteils unter der Verantwortung des Finanzamts in Bielefeld beschlagnahmt und versteigert.
Es durften lediglich 25kg Reisegepäck und zwei Schlafdecken sowie Proviant mitgenommen werden. Ihr geringes Gepäck wurde im Kyffhäuser kontrolliert, Wertsachen und persönliche Papiere wurden von der Gestapo einkassiert.
Der Zug traf verspätet in den frühen Mordenstunden des 2. Aprils 1942 in Warschau ein. Der letzte Vorsitzende des Warschauer Judenrats, Adam Czerniaków (1880-1942), notiert dazu in seinem Tagebuch:
„Etwa 1000 Deportierte […]. [Sie] haben nur kleine Gepäckstücke mitgebracht. Den über 68 Jahre Alten hatte man erlaubt in Deutschland zu bleiben. Alte Leute, viele Frauen, kleine Kinder.“ (nach Gottwald/Schulle 2005, S. 189).
Nach heutigem Kenntnisstand überlebte nur eine Person die Deportation aus Bielefeld: Robert Levi aus Schlangen – nach Kriegsende konnte er als Zeuge im Treblinka-Prozess aussagen. Für die übrigen bedeutete das Ghetto in Warschau einen Zwischenaufenthalt und weitere Selektionen. Sie wurden vermutlich überwiegend in den Vernichtungslagern Chelmno, Belzec oder Sobibor systematisch ermordet oder starben unter unmenschlichen Bedingungen – einige mussten zuvor beim Aufbau des Lagers Treblinka helfen.
Eine offizielle Liste der zu Deportierenden ist nicht überliefert. Die Identifizierung der Namen ist nach wie vor eine Herausforderung und nicht abgeschlossen. In den Bielefelder Meldekarten sind häufig nur „nach Osten“ oder ähnlich verschleiernde Angaben vermerkt worden. Die Aufarbeitung der Deportation nach Warschau ist von vielen Gruppen und Initiativen begonnen worden. So organisierte beispielsweise 1980 der Antifaschistische Arbeitskreis Bielefeld in der Stadtbibliothek eine Ausstellung, 2005 folgte die Wanderausstellung „Oneg Shabbat – Das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos“ in der Volkshochschule Bielefeld. Auch die Gedenkstätte Zellentrakt in Herford widmet sich der weiteren Aufarbeitung.
Spur aufgenommen und Recherche
Jan-Willem Waterböhr M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld
Irith Michelsohn, Paul Yuval Adam
Jüdische Kultusgemeinde Bielefeld