Am Freitag, den 10. Juli 1942 verließ der dritte Deportationszug über Bielefeld den Haupt- und Güterbahnhof. Als Ziel war das „Judenghetto“ Warschau ausgegeben worden. Der Zug kam dort jedoch niemals an, sondern erreichte womöglich zwei Tage später das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.
Dank der Forschungsleistung von Martin Decker und Kai-Uwe von Hollen kann der Deportationszug anhand von aus dem Zug geworfenen Postkarten von Bielefeld über Hamburg, Ludwigslust Berlin bis Breslau und Oppeln nachverfolgt werden. Ein anderes Ziel als das neu in Betrieb genommene Vernichtungslager Auschwitz wird in der Forschung derzeit als unwahrscheinlich angesehen. Somit sind die 103 deportierten Jüdinnen und Juden aus Münster, Dortmund, Bielefeld und Osnabrück – davon waren 33 zuvor als wohnhaft in Bielefeld registriert (Liste) – frühe Opfer der direkten Vernichtungsmaschinerie der Nationalsozialisten in Auschwitz.
Zuvor wurde das Ziel des Deportationszugs von der Gestapo vor den Jüdinnen und Juden sowie der Öffentlichkeit absichtlich verschleiert. Das zeigt eine Postkarte von Thekla Lieber, die am 8. Juli 1942 vor der Einweisung in das Sammellager „Kyffhäuser“ an die Familie ihrer Tochter in Brüssel verschickte:
„Wir fahren erst nach Hamburg, Ziel Warschau. Macht euch keinen Kummer um mich, bleibt ihr nur gesund und meine Bekannten bleiben mit euch in Verbindung.“ (zit. nach Decker/von Hollen 2010, S. 6)
Die zur Deportation bestimmten Jüdinnen und Juden wurden im Versammlungshaus „Kyffhäuser“ am Kesselbrink inhaftiert, ihre Besitztümer wurden ihnen abgenommen. Im Vergleich zu den vorherigen Deportationen nach Riga (1941) und Warschau (1942) wurden sie mit einem ungewöhnlich kurzen Vorlauf von nur zwei Tagen über ihre „Evakuierung“ informiert – so der verharmlosende Jargon der Nationalsozialisten.
Über die genauen Beweggründe der Verschleierung des Deportationsziels ist derzeit nichts bekannt. Die vorangegangenen Deportationen in die „Judenghettos“ sollten ohne „Belästigung“ der Bevölkerung durchgeführt werden. Zu vermuten ist, dass die Nennung des Ziels Auschwitz für zu viel Aufsehen gesorgt hätte. Zum Vergleich: Vor der anschließenden am 31. Juli 1942 stattgefundenen Deportation aus Bielefeld nach Theresienstadt nahmen sich mindestens sechs Personen das Leben.
Die Aufarbeitung der Deportation am 10. Juli 1942 war und ist bis heute aufwändig. Da die Gestapo auch die Stadtverwaltung über das Ziel der Deportation im Ungewissen ließ, können nur einzelne Spuren von Personen, die am 8. bis 10. Juli 1942 „unbekannt verzogen“ waren – so wurde der Abtransport häufig in den Hausbüchern und den Meldekarten vermerkt – nachverfolgt werden. Für die meisten der Insassen des Zugs verlieren sich die Spuren am Haupt- und Güterbahnhof Bielefeld.
Lediglich der Koffer des ebenfalls im Zug befindlichen Arztes Dr. Bernhard Aronsohn aus Hamburg ist in Auschwitz gefunden worden – ein recht sicheres Argument, dass der Zug direkt nach Auschwitz fuhr. Erst nach 1945 konnte die Jüdische Gemeinde in Hamburg einzelne Bahnbedienstete befragen, die bestätigten, dass das Ziel des Zugs Auschwitz war.
Mit der Analyse der aus dem Zug geworfenen Postkarten von Decker und von Hollen im Jahr 2010 besteht ein letztes Puzzelstück, welches die Verbindung der Jüdinnen und Juden aus dem Regierungsbezirk Minden, Lippe und Schaumburg-Lippe mit dem Deportationszug aus Hamburg über Ludwigslust, Berlin, Breslau und Oppeln nach Auschwitz entscheidend herstellt.
Dass die Deportation am 10. Juli 1942 stattfand, ist recht lange bekannt. Die Namen der mehr als 1.800 aus dem heutigen Ostwestfalen-Lippe stammenden Jüdinnen und Juden sind auf dem Mahnmal „Jede Ermordete, jeder Ermordete hat einen Namen“ aufgelistet. Das Mahnmal steht seit 1998 vor dem Hauptbahnhof in Bielefeld.
Spur aufgenommen und Recherche
Jan-Willem Waterböhr M.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld