Warten auf die Zugfahrt in den Tod

Nachdem die Deportationsopfer aus den Stadtbussen ausgestiegen waren, mussten sie zwischen dem Güterbahnhof und einem angrenzenden Wohngebiet darauf warten, dass ihnen ihr Handgepäck wieder ausgehändigt wird. Im Hintergrund sind Wohnblocks der Großen-Kürfürsten-Straße zu sehen.
Nachdem die Deportationsopfer aus den Stadtbussen ausgestiegen waren, mussten sie zwischen dem Güterbahnhof und einem angrenzenden Wohngebiet darauf warten, dass ihnen ihr Handgepäck wieder ausgehändigt wird. Im Hintergrund sind Wohnblocks der Großen-Kürfürsten-Straße zu sehen. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld 1941, Bd. 2
Die Bielefelder, die in der Nähe des Güterbahnhofs wohnten, konnten an diesem Tag aus ihren Fenster sehen was vor dem Zoll- und Güterschuppen passierte.
Die Bielefelder, die in der Nähe des Güterbahnhofs wohnten, konnten an diesem Tag aus ihren Fenster sehen was vor dem Zoll- und Güterschuppen passierte. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld 1941, Bd. 2
Vor dem vergitterten Fenster des Zoll- und Güterschuppens wartet das Ehepaar Jenny und Heinrich Mayer auf den Deportationszug. Laut Aufschrift enthält der Koffer zwischen ihnen Werkzeug und Töpfe. Der Mann hält eine riesige Tasche.
Vor dem vergitterten Fenster des Zoll- und Güterschuppens wartet das Ehepaar Jenny und Heinrich Mayer auf den Deportationszug. Laut Aufschrift enthält der Koffer zwischen ihnen Werkzeug und Töpfe. Der Mann hält eine riesige Tasche. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld 1941, Bd. 2.
Eine Gruppe jüdischer Männer, die sich um eine Kiste mit Schwergepäck mühen. In der Bildmitte ist Bielefelder Riga-Überlebende Artur Sachs zu erkennen. Am linken Arm trug er eine weiße Binde, die als Mitglied des jüdischen Ordnungsdienstes während der Fahrt des Deportationszuges kennzeichnete.
Eine Gruppe jüdischer Männer, die sich um eine Kiste mit Schwergepäck mühen. In der Bildmitte ist Bielefelder Riga-Überlebende Artur Sachs zu erkennen. Am linken Arm trug er eine weiße Binde, die als Mitglied des jüdischen Ordnungsdienstes während der Fahrt des Deportationszuges kennzeichnete. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld 1941, Bd. 2.
Nach der Ankunft des aus Münster kommenden Zuges herrschen auf dem Sondergleis des Bahnhofs beängstigende Zustände. Die schwerbeladenen Menschen mussten auf dem schmalen Bahnsteig zu einem Waggon gehen, die für die „Bielefelder“ vorgesehen war.
Nach der Ankunft des aus Münster kommenden Zuges herrschen auf dem Sondergleis des Bahnhofs beängstigende Zustände. Die schwerbeladenen Menschen mussten auf dem schmalen Bahnsteig zu einem Waggon gehen, die für die „Bielefelder“ vorgesehen war. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld 1941, Bd. 2.
13. Dezember 1941
Hauptbahnhof (Güterbahnhof), Bielefeld

Am 13. Dezember 1941 wurden 420 Jüdinnen und Juden von Bielefeld aus in das Ghetto „Riga“ deportiert. Für die meisten von ihnen war unsere Stadt Ausgangspunkt für die „Reise“ in den Tod. Nach kurzer Fahrt kamen die Deportationsopfer, die vor dem Sammellager „Kyffhäuser“ in Stadtbusse gestiegen waren, am Haupt- und Güterbahnhof an. Ihr Handgepäck und mehrere schwere Kisten waren dort mit dem gleichen Ziel auf offene Pferdewagen verladen worden.

Anwohner beobachten das ungewöhnliche Treiben

Am Zoll- und Güterschuppen des Bahnhofs standen die Jüdinnen und Juden, nachdem sie aus den Bussen ausgestiegen waren, in einer langen Warteschlange und warteten darauf, dass ihnen ihr Handgepäck ausgehändigt wurde.  Auch diese Ereignisse dürften nicht unbemerkt geblieben sein: Bewohnerinnen und Bewohner der „Wohnblocks der Großen-Kurfürsten-Straße [konnten] von ihren Fenstern aus, dieses ungewöhnliche Treiben auf diesem Bahnhofsabschnitt über Stunden“ beobachten (Minninger 2008, S. 453 f.).

Jenny Mayer trägt zwei Mäntel übereinander

Auch diese Szenen wurden von dem von der Gestapo beauftragten „Fotografen“ für die „Kriegschronik der Stadt Bielefeld“ dokumentiert. Eines der Fotos zeigt das Ehepaar Jenny und Heinrich Mayer, 29 und 31 Jahre alt, im Hintergrund ein vergittertes Fenster des Güterschuppens an ihrem ersten Hochzeitstag. Beide haben die Deportation nach Riga nicht überlebt.  Die junge Frau trägt zwei Mäntel – einen hellen und einen dunklen – übereinander und reagierte damit auf die Vorschrift, dass das Reisegepäck auf 50 kg pro Person beschränkt war. Weil beide Mäntel geöffnet sind, kann man auf ihrer Brust ein Pappschild mit der Transportnummer „750“ und zum Teil den aufgenähten „Judenstern“ erkennen.

Handwerks- und Ackerbaugeräte für die „Umsiedlung in den Osten“

Auf einem weiteren Bild, das ebenfalls ganz in der Nähe der Güterschuppen fotografiert wurde, ist eine „Gruppe jüdischer Männer“ zu sehen, die eine „Kiste mit Schwergepäck“ verladen.  Monika Minninger schreibt dazu:

Laut Einzelanweisung der Gestapo war für die ‚Umsiedlung‘ die Mitnahme von Handwerks- und Ackerbaugeräten empfohlen worden und so gingen denn selbst Öfen auf die Reise.“ (Minninger 2008, S. 454 f.)

Einer dieser Männer, zu erkennen an der weißen Armbinde, ist Artur Sachs. Seine Frau Berta und er gehören zu den wenigen, die diese Deportation überlebt haben.  Die anderen Personen können nicht sicher identifiziert werden.

Die „Richtlinien zur Durchführung der Evakuierung von Juden“ zeigen in Bezug auf das Gepäck, das mitgenommen werden durfte, ganz deutlich, dass die Organisatoren dieser Deportation alles taten, um diese Aktion als „Umsiedlung“ zu tarnen.  Inoffiziell bestand bereits fest, dass es sich um eine Maßnahme zur „Endlösung der Judenfrage“ handelte.

Katastrophale Verhältnisse auf dem schmalen Bahnsteig

Bernd J. Wagner beschreibt die Umstände am Sondergleis:

Als der Zug am frühen Nachmittag aus Münster kommend in Bielefeld eintraf, herrschen auf dem schmalen Bahnsteig katastrophale Verhältnisse. […] Die Bielefelder Deportationsopfer mussten mit ihrem Handgepäck an den Waggons vorbeilaufen, um die ihnen zugeteilten Abteile zu erreichen.“ (Wagner 2012, S. 80)

Sie durften ihre Rucksäcke, Taschen u. ä. mit in den Zug nehmen, während das schwere Gepäck in einen Extrawaggon verladen wurde.

Sämtliches Gepäck ging bei der Ankunft in Riga “verloren”

Der bereits erwähnte Artur Sachs gibt in seinen „Lebenserinnerungen“ auch Auskunft über den Verbleib des Gepäcks nach Ankunft des Deportationszuges im lettischen Riga:

Unser Handgepäck wurde uns abgenommen, wir haben es nie wiedergesehen, genauso wenig wie unsere 100 Pfund Habseligkeiten.” (Sachs 2010, S. 12)

Spur aufgenommen und Recherche
Lutz Havemann
Initiativkreis Erinnern und Gedenken in OWL

Literatur

  • Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus, Bielefeld 1983
  • Minninger, Monika, Bilder einer Abschiebung 1941 – eine Fotoserie zur Bielefelder Judendeportation, in: Westfälische Forschungen 58 (2008), S. 441-460.
  • Sachs, Artur. Lebenserinnerungen 1933-1945, verfasst 1986. Publiziert als Erinnerungsbuch des Arbeitskreises „Spuren jüdischen Lebens in Werther“, Werther 2010.
  • Wagner, Bernd J., Teil 2: Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd.  24), Bielefeld 2012, S. 70-127.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,11/Kriegschronik der Stadt Bielefeld, Bd. 4. URL

 

Veröffentlicht am und aktualisiert am 27. September 2022

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