Hajo Meyer flüchtet aus Bielefeld in die Niederlande

Hajo Meyer nach seiner Lagerzeit in Auschwitz, vermutlich in den Niederlanden, ca. 1945.
Hajo Meyer nach seiner Lagerzeit in Auschwitz, vermutlich in den Niederlanden, ca. 1945. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 95-013-106
Hajo Meyer als Laufbursche für den „Joodse Raad“ in Amsterdam, 1941-1943.
Hajo Meyer als Laufbursche für den „Joodse Raad“ in Amsterdam, 1941-1943. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 95-013-105
Hajo Meyer (links unten, kniend) zusammen mit einigen Mitschülern in Wieringen/Niederlande, 1939-1941.
Hajo Meyer (links unten, kniend) zusammen mit einigen Mitschülern in Wieringen/Niederlande, 1939-1941. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 95-013-104
4. Januar 1939
Karl-Eilers-Straße 10, 33602 Bielefeld

Am 4. Januar 1939 verließ Hans Joachim Gustav „Hajo“ Meyer (1924-2014) Bielefeld mit einem Kindertransport in die Niederlande und entging erstmals der nationalsozialistischen Verfolgung. Er kam zunächst in verschiedenen Flüchtlings- und Kinderheimen unter. Eine neue Heimat fand er im Hachschara in Wieringen, wo er sich für die Auswanderung nach Palästina vorbereitete.

Als es im März 1941 aufgelöst und die Bewohnerinnen und Bewohner nach Mauthausen deportiert und dort ermordet wurden, begann für ihn eine weitere Odyssee: Mit Glück blieb vor dem Zugriff verschont und kam in ein Kinderheim in Amsterdam. In den zwei Folgejahren konnte er dort eine Schlosserausbildung abschließen und sein Abitur nachholen. Er musste jedoch im Anschluss untertauchen und kam bei Pflegeltern in Blaricum unter.

Schließlich wurde er am 21. März 1944 beim Holzholen von der Gestapo aufgegriffen und über das Durchgangslager Westerbork nach Auschwitz deportiert. Eine abgeschlossene Schlosserlehre, sein neugewonnener Freund Jos Slagter (1907-1977) und eine große Portion Glück sicherten sein Überleben, wie er später berichtete. Hajo und Jos überlebten die Todesmärsche aus Auschwitz und wurden schließlich von der Roten Armee befreit. Er kehrte über Odessa und Marseille nach Amsterdam zurück.

Kindheit und Jugend in Bielefeld

Hajo kam als dritter Sohn von Dr. Gustav (1884-1944) und Therese Meyer, geborene Melchior (1890-1944) am 12. April 1924 in Bielefeld zur Welt. Von Ostern 1934 bis zum 15. November 1938 – fünf Tage nach dem Pogrom vom 9. auf den 10. November – konnte er das Ratsgymnasium besuchen. Dann musste er die Schule verlassen. Ob er schon zu Kinder- und Jugendzeiten oder erst später die Leidenschaft für das Geigenspiel entdeckte, ist derzeit unklar. Da das musikalische Talent seiner Brüder frühzeitig gefördert wurde, ist es auch wahrscheinlich, dass auch Hajo schon früh Geige spielte. Die Musik und die gebrochene Schulbildung prägten seine letzten Lebensjahre.

Mit 14 Jahren verließ Hajo die aufgezwungene Wohnstätte in der Lützowstraße 10 (heute: Karl-Eilers Straße). Am 4. Januar 1939 setzte ihn einer seiner Brüder – vermutlich Alfred Meyer – in den Zug, der ihn in die Niederlande brachte. Dort glauben ihn seine Eltern zunächst in Sicherheit – der Krieg brach acht Monate später aus, die Niederlande wurden im Mai 1940 besetzt.

Die Zeit nach 1945 – Aufklärer und Antisemit?

Nach seiner Rückkehr begann er ein Physikstudium in Amsterdam, promovierte und leitete das niederländische Forschungsinstitut von Philips. Er kehrte erst Jahre später als Besucher nach Bielefeld zurück und berichtete mehrmals von seinem Verfolgungsschicksal – unter anderem vor Schülerinnen und Schülern des Ratsgymnasiums.

Nach seiner Pensionierung widmete er sich nicht nur dem Geigenbau, er begann auch kontrovers diskutierte Meinungen zum Nahost-Konflikt zu veröffentlichen. Er warf Israel einen zum Holocaust vergleichbaren Völkermord vor und dass die Jüdinnen und Juden am Holocaust sowie am Krieg in Nahost selbst schuld seien („Schuldumkehr“). Autoren wie Henryk M. Broder warfen ihm anschließend Antisemitismus vor, wogegen er juristisch vorging. Das Oberlandesgericht Frankfurt urteilte 2007, dass es einen jüdischen Antisemitismus geben kann und Broder konnte seine Kritik bekräftigen.

Die Verlegung der Stolpersteine für seine Eltern vor der Kavalleriestraße 14 erlebte Hajo noch selbst. Er verstarb in seiner Wahlheimat Heiloo in den Niederlanden am 23. August 2014 im Alter von 90 Jahren. Sein Stolperstein folgte Anfang November 2015.

Spur aufgenommen und Recherche
Jan-Willem Waterböhr
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

Literatur

  • Meyer, Alfred G., Mein Verhältnis zu Deutschland und zum Jude sein, in: Joachim Meynert (Hrsg.), Ein Spie-gel des eigenen Ich. Selbstzeugnisse antisemitisch Verfolgter, Bielefeld 1988, S. 158-185
  • Meyer, Hajo, Briefe eines Flüchtlings. Ein jüdischer Junge im holländischen Exil, Berlin 2014.
  • Minninger, Monika, Meyners, Joachim, Schäffer, Friedhelm, Antisemitisch Verfolgte registriert in Bielefeld 1933-45. Eine Dokumentation jüdischer Einzelschicksale, Bielefeld 1985
  • Minninger, Monika, Stüber, Anke, Klussmann, Rita, Einwohner – Bürger – Entrechtete. Sieben Jahrhunderte jüdisches Leben im Raum Bielefeld, Bielefeld 1988
  • Wagner, Bernd J., Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp u.a. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn“. Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945, Bielefeld 2012

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18.: Meldekartei Bielefeld-Mitte, 1920-1958
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,003/Wiedergutmachung Stadt, Nr. B 139
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand, 400,7/Filme, Nr. 112: Schicksale jüdischer Zeitzeugen. Bielefeld bis Auschwitz
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