Adolf Wagner und Frieda Stein – Das vergebliche Ringen um Assimilation

Die Bielefelder Straße in Brackwede auf Höhe des Hauses Nr. 46, um 1933.
Die Bielefelder Straße in Brackwede auf Höhe des Hauses Nr. 46, um 1933. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3Fotosammlung, Nr. 11-286-54
Briefkopf der Firma Heinrich Mühlenweg & Co., bei der Adolf Wagner und andere männliche Sinti während ihres Aufenthalts in Brackwede beschäftigt waren.
Briefkopf der Firma Heinrich Mühlenweg & Co., bei der Adolf Wagner und andere männliche Sinti während ihres Aufenthalts in Brackwede beschäftigt waren. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,2/Amt Brackwede Nr. 1594
Verkündung des Aufgebots des Standesamts Brackwede.
Verkündung des Aufgebots des Standesamts Brackwede. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,2/Amt Brackwede, Nr. D 733
10. Februar 1943
Artur-Ladebeck-Straße 189-193, 33647 Bielefeld

Termin der Eheschließung: Anfang März.”

Recht unspektakulär kommen diese Worte daher, wie sie sich in den Unterlagen des Standesamts Brackwede aus dem Jahr 1943 finden lassen. Am 10. Februar hatten sich der 23-jährige Adolf Wagner und die etwa ein Jahr ältere Frieda Stein auf den Weg dorthin gemacht, um ihren Willen zur Eheschließung bekannt zu geben und das weitere Verfahren anzustoßen. Ein Vorgang, wie er in der Behörde allzu regelmäßig stattfand. Aber an diesem Gesuch war nichts Alltägliches. Denn es wurde gestellt von zwei Personen, die eigentlich schon verheiratet waren – nach “Zigeunerart”, wie es die Beamten in Brackwede ausdrückten. Im Gegensatz zu Eheschließungen von nicht durch die Rassegesetzgebung ausgegrenzten Zeitgenossen gehörte das Prozedere im Rahmen der Verehelichung von Sinti und Roma nämlich nicht zu den üblichen Amtshandlungen und war auf der Grundlage der “Nürnberger Rassegesetze” von 1935 durch Stigmatisierung und bewusst erschwerte Umstände geprägt.

In Brackwede festgehalten

Im Spätsommer 1939 war die junge Sinti-Familie in die Gemeinde im Landkreis Bielefeld gezogen und wurde hier vom sogenannten Festsetzungserlasses Heinrich Himmlers ereilt, der Sinti und Roma die Reisefreiheit verweigerte. An den Ort gebunden, bildete man mit den Familien der Eltern und der Schwester von Frieda eine Art Schicksalsgemeinschaft und zog mit den Wohnwagen innerhalb der Gemeinde Brackwede herum, größtenteils von der Bevölkerung abgelehnt, manchmal aber auch toleriert. Ab März 1941 fand die mehr als 15 Köpfe zählende Gruppe schließlich einen “festen” Standort in der Schulstraße 59, in einer Bodensenke in der Nähe des Kalkwerks. Dort mussten Adolf und Frieda eine weitere Tragödie durchleben, als im Juli 1941 ihre Tochter Emma mit nur einem Monat an “Lebensschwäche” starb.

Das Gemeinschaftsgefüge der Großfamilie fand schließlich ein Ende, als Frieda und Adolf beschlossen, den Wohnwagenstandort an der Schulstraße zu verlassen und die damit verbundene Lebensweise zu durchbrechen. Sie kamen in einem Wohnhaus an der Bielefelder Str. 42 (heute: Artur-Ladebeck-Straße 189-193) unter. Laut Einwohnermeldeamt waren sie und die Kinder Else, Paul und Gisela dort ab dem 10. Februar 1943 gemeldet – dem Tag, an dem sie ebenfalls das Standesamt aufsuchten, um ihre “offizielle” Eheabsicht zum Ausdruck zu bringen. Bereits im März 1942 hatte der heimische Standesbeamte in Stralsund, dem Geburtsort von Frieda, nach für die Eheschließung nötigen Unterlagen angefragt.

Ausgrenzende Maßnahmen im Standesamt

Im Standesamt Brackwede war man mit der Situation offensichtlich überfordert: Am 11. Februar wandte sich der Standesbeamte mit folgenden Worten an den Landrat:

Da es sich im vorliegenden Fall um einen Spezialfall handelt, bitte ich um geflissentliche Mitteilung, ob dortseits evtl. noch weitere Bestimmungen bekannt sind, die bei der Eheschließung zu beachten wären, oder ob nach dortiger Ansicht die standesamtliche Trauung ohne Bedenken erfolgen kann.” (StArchBi, Best. 130,2/Amt Brackwede, Nr. D 733)

Aus dem Landratsamt erfolgte schon einige Tage später die Antwort, dass die Trauung ohne Bedenken vorgenommen werden könne. Zusätzlich musste noch ein “Ehetauglichkeitszeugnis” vorgebracht werden – eine ebenfalls aus der Rassegesetzgebung resultierende Bestimmung. Das entsprechende Zeugnis hatte ihnen das Gesundheitsamt des Kreises am 8. Februar anstandslos ausgestellt.

Vergebliche Mühe – Deportation nach Auschwitz

Das Verlassen des familiären Umfelds, der neue Wohnsitz in einem Mehrfamilienhaus, die standesamtliche Eheschließung – sie legen nahe, dass Adolf Wagner und Frieda Stein jede nur erdenkliche Möglichkeit suchten, so etwas wie Zugang zur Lebensweise der sie in großen Teilen ablehnenden Mehrheitsgesellschaft in Brackwede zu finden.

Termin der Eheschließung: Anfang März.” – Es sind die abschließenden Worte des dokumentierten Vorgangs. Denn anstatt zu heiraten, wurden Adolf Wagner und Frieda Stein am 4. März 1943 mit ihren Kindern sowie den anderen Brackweder Sinti durch die Gestapo Bielefeld unter Mithilfe heimischer Polizeibeamter über Hannover in das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz deportiert. Damit war das Ringen um Assimilation in die Brackweder Gesellschaft endgültig gescheitert. Aus der Familie überlebte niemand den “Porajmos”.

Spur aufgenommen & Recherche
Helmut Henschel B.A.
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld

Literatur

  • Bott-Bodenhausen, Karin, Erinnerungen an Zigeuner. Menschen aus Ostwestfalen-Lippe erzählen von Sinti und Roma, Düsseldorf 1988.
  • Fings, Karola, Sinti und Roma. Geschichte einer Minderheit, München 2016.
  • Fings, Karola (Hrsg.), Zigeunerverfolgung im Rheinland und in Westfalen 1933-1945: Geschichte, Aufarbeitung und Erinnerung, Paderborn 2012.

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 33
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,2/Amt und Stadt Brackwede, Nr. 2239
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,2/Amt und Stadt Brackwede, Nr. D 733
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