Das Haus Jöllenbecker Straße 51
Unscheinbar zeigt sich das 1890 erbaute Haus Jöllenbecker Straße 51 heute.
Bauherren und erste Eigentümer waren der Viehhändler Markus Greve (1850-1896) und seine Ehefrau Luise Greve geb. Bauch (1862-1919). Nach dem frühen Tod ihres Ehemanns betrieb die Witwe Luise dort spätestens seit 1899 einen Kolonialwarenladen/Kleinhandel, den die ältere Tochter Paula (1893-?) übernahm, aber 1923 aufgab. Sie lebte in den 1920er-Jahren in Chicago/USA, kehrte jedoch zurück und heiratete 1934 in Bielefeld den in Köln-Nippes geborenen Otto Seligmann (1883-?). Von ihrer Schwester Helene Greve (1889-?) ist lediglich bekannt, dass sie als Verkäuferin gearbeitet und in Bochum, Gelsenkirchen und Hanau gelebt hatte und 1911 nach Frankfurt/M. verzog.
Von 1899 bis 1908 lebten auch der Viehhändler Louis Hamlet (1856-1936) und Bertha Hamlet geb. Nathan (1869-1942) mit Kindern im Haus.
Otto und Paula Seligmann bewohnten das Haus nach einem Umbau 1935 wieder, den der Architekt Paul Löwenthal (1890-1943) entworfen hatte. Von dort meldeten sie am 14. Januar 1939 die Führung der Zwangsvornamen „Israel“ und „Sara“ beim Standesamt an. Beide wurden am 31. Juli 1942 nach Theresienstadt, danach nach Auschwitz deportiert, wo sich ihre Spur verliert. Ein Todesdatum ist nicht bekannt.
Das „Judenhaus“
Schon vor dem „Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden“ vom 30. April 1939 hatten Greves seit 1936, meist nur für wenige Monate, jüdische Mieter gehabt, darunter bis 1939/40 die Eheleute Albert Daltrop (1886-1977) und Charlotte/Lotte Daltrop geb. Raphael (1900-2001). Der vom Lehrgut Ellguth bei Steinau zugezogene Schoah-Überlebende Walter Landsberger (1920-2001) und auch Josef Reinhold (1916-1945) konnten Anfang 1939 von hier in die Niederlande auswandern. Josef Reinhold wurde dort gefasst und starb am 30. Januar 1945 in Auschwitz, nur drei Tage nach seiner Befreiung.
Am 1. November 1939 zog die in Werdohl geborene Pauline Lennhoff (1883-?) zu, womit das Haus zum „Judenhaus“ wurde. Es folgten am 5. März 1940 aus dem ostfriesischen Esens die Eheleute August Levy (1887-?) und Helene Levy geb. Heinemann (1885-?), die am 13. Dezember 1941 nach Riga deportiert und dort ermordet wurden. Danach zogen Paulines Schwester Berta Lennhoff (1890-1942) und Selma Raphael geb. Roos (1877-1943) zu. Alle drei wurden gemeinsam mit Seligmanns nach Theresienstadt verschleppt, Pauline von dort aus nach Auschwitz, wo sie mit unbekanntem Datum ums Leben kam. Selma Raphael wurde weiter nach Treblinka deportiert, danach nach Auschwitz, wo sie im Oktober 1943 ermordet wurde.
„Beamtenwohnungsfürsorge“ auch für Angestellte
Von ihrem Zugriff auf jüdisches Vermögen ließ die Finanzverwaltung auch ihr Personal profitieren. Ein Ministerialerlass vom 4. November 1941 über die „Behandlung des unbeweglichen Vermögens“ stellte der Reichsfinanzverwaltung eine Nutzung für die „Beamtenwohnungsfürsorge“ anheim.
Der ledige Angestellte Heinz-Günter Küth (1922-1983), der beim Finanzamt Bielefeld die Verwertung jüdischen Vermögens mit bearbeitete, zog am 20. September 1942 mit Eltern und Schwester in das ehemalige „Judenhaus“ Jöllenbecker Straße 51, das mit dem Theresienstadt-Transport vom 31. Juli 1942 freigemacht worden war.
Nur eine Woche nachdem Küths das Haus am 30. September 1945 wieder verlassen hatten (müssen?), quartierte die Stadt dort den Theresienstadt-Überlebenden Robert Eichengrün (1883-1962) und seine nichtjüdische Ehefrau Friede geb. Baumhöfener (1885-1968) ein, bewies dabei nicht gerade Fingerspitzengefühl, aber erlernte Routine in Sachen Wohnraumbeschaffung.
1968 listete die Jüdische Kultusgemeinde das Haus als „Judenhaus“.
Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Jochen Rath
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld
Literatur
- Adler, Hans Günter, Der verwaltete Mensch, Tübingen 1974.
- Meynert, Joachim / Schäffer, Friedhelm, Die Juden in der Stadt Bielefeld während der Zeit des Nationalsozialismus (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 3), Bielefeld 1983.
- Schneider, Hubert, Die Entjudung des Wohnraums – Judenhäuser in Bochum. Die Geschichte der Gebäude und ihrer Bewohner (Schriften des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte, Nr. 4), Berlin 2010.
- Wagner, Bernd J., Deportationen in Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte, Bd. 24), Bielefeld 2012, S. 70-127.
Quellen
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 101,5/Geschäftsstelle V, Nr. 551: Wohnungsangelegenheiten jüdischer Personen, 1939-1942.
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.1/Standesamt Bielefeld, Nr. 17: Anmeldung und Beischreibung der Zwangsvornamen für Juden, 1938-1943.
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1402: Hausbuch Jöllenbecker Straße 51.
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Amt für Wiedergutmachung, Stadt, C 52: Entschädigung von Freiheitsbeschränkung durch Aufenthalt in sog. Judenhäusern.
- Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,2/Zeitungen, Nr. 6: Westfälische Neueste Nachrichten v. 27.5.1939. URL; Nr. 50: Westfälische Zeitung v. 27.5.1939. URL