„[W]ürde es Ihre Zeit erlauben, bei Gelegenheit mich zu besuchen, damit ich Ihren alten bewährten Rat in Anspruch nehmen könnte? Sie waren doch immer unser bestes Pferd im Stall […]“,
mit diesen herzlichen Worten und dem Zusatz: „Ich koche auch einen exzellenten Kaffee […]“, lud die 71-jährige Witwe Kläre Beier den Wiedergutmachungsbeamten Berger auf einen „länglichen Schwatz“ zu sich nach Senne ein. Der Beamte kam ihrer Bitte nach und über den mühseligen Verwaltungsakt der Wiedergutmachungsanträge entwickelte sich ein freundschaftlich anmutender Briefwechsel, in dem Kläre es sich mitunter nicht nehmen ließ, Buchempfehlungen auszusprechen, sich über den „heiligen Bürokratius“ samt seiner „Formulare, Formulare, von der Wiege bis zur Bahre“ auszulassen oder sogar ein charmantes Gedicht auf einen Verwaltungsfehler hin zu verfassen. Mit Freude stellten die Beamten damals fest, dass diese Dame „den Humor trotz aller Widrigkeiten nicht verloren [hatte].“
Friederike Klara Helene Tödheide ist am 11. Oktober 1882 in eine evangelische Familie in Hannover geboren. Sie besuchte eine Privatschule und hat am 6. Oktober 1910 den „in Bielefeld sehr beliebt gewesenen und als besonders tüchtig angesehenen jüdischen [Hals-, Nasen-, Ohren-] Arzt Dr. Louis Beier“ geheiratet. Kurz nach der Hochzeit kaufte das Ehepaar ein Wohnhaus in der Viktoriastraße 1, welches Louis gleichzeitig als Praxis diente.
Bereits früh nach der sogenannten Machtergreifung der Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 gerieten jüdische Rechtsanwälte und Ärzte in den Fokus antisemitischer Boykottaktionen und Reglementierungen. Mit dem „Berufsbeamtengesetz“ vom 22. April 1933 wurden jüdische Kassenärzte von der Zulassung ausgeschlossen, was unweigerlich zum wirtschaftlichen Ruin vieler Betroffener führte. Noch bevor die Nationalsozialisten den jüdischen Ärzten im Oktober 1938 das vollständige Berufsverbot erteilten, verübte Louis Beier nach Angaben von Kläre am 31. März 1938 Suizid, weil er die Diskriminierungen nicht mehr ertragen konnte. Er verstarb an einem Herzinfarkt im St. Franziskus Hospital, nachdem er seiner Frau einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte.
Als Witwe eines jüdischen Ehemannes und bekannte Gegnerin des NS-Regimes wurde auch Kläre Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. In Folge einer Anzeige durch eine Bekannte wurde sie am 2. Mai 1941 von der Gestapo verhaftet und nach sechsstündiger Vernehmung im Polizeigefängnis Bielefeld wegen Abhörens feindlicher Sender sowie „Wehrkraftzersetzung“ als „Juden- und Englandfreundlich“, „Volksschädling“ und „Staatsverräter“ zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt. Ihre Strafe verbüßte sie im Frauenzuchthaus Anrath bei Krefeld, wo sie in einer Fallschirmseidenfabrik arbeiten musste. Während ihrer Haft litt sie an einer schweren Darmerkrankung. Allerdings wurde ihr jegliche Behandlung verwehrt, weshalb sie sich nach ihrer Entlassung am 2. Mai 1943 mehrerer Operationen im Gilead in Bethel unterziehen musste.
Nach ihrer Haft ist Kläre in ihr Wohnhaus in der Viktoriastraße 1 zurückgekehrt. Am 30. September 1944 wurde das Haus in Folge der amerikanischen Luftangriffe auf Bielefeld zusammen mit großen Teilen der Stadt fast vollständig zerstört. Der Dachstuhl sowie Decken und Wände sind durch Spreng- und Brandbomben bis auf das Erdgeschoss heruntergebrannt. Kurz nach Beendigung des Krieges wurde mit dem Wiederaufbau des Hauses begonnen. Am 18. August 1946 verzog Kläre nach Senne, in den Hellweg Nr. 406, wo sie ihre letzten Jahre mit ihrer Pflegerin und bei gelegentlichen Besuchen des Beamten Bergers verbrachte. Sie verstarb am 11. März 1963.
Spur aufgenommen und Recherche
Philipp Radde