„Unmittelbar nachdem der Zug den Bahnhof verlassen hatte, kam rechts der jüdische Friedhof. Dann folgte links das Symbol Bielefelds, die Burg Sparenberg, aber vorher noch auf der gleichen Seite die Puddingpulverfabrik von Oetker. Ihr Geruch, ein Geruch, der zu ihrer Kindheit gehörte, umgab sie, bis alle die vertrauten Meilensteine – Brackwede, der Wald, die Heide – hinter ihnen lagen.“ (Gershon 1992, S. 281)
So erinnert sich Karen Gershon, die frühere Käthe Löwenthal, viele Jahre später in ihrer Autobiographie, „Das Unterkind“, an die Abfahrt des Kindertransports aus Bielefeld, am 14. Dezember 1938. Das Ziel der Reise, die eine tiefe Zäsur in Käthes Leben darstellt, ist England, wo das fünfzehnjährige Mädchen vor dem Terror des NS-Regimes in Sicherheit ist.
Käthe wird als dritte Tochter des Architekten Paul Löwenthal und dessen Ehefrau Selma Löwenthal, geborene Schönberg, am 29. August 1923 in Bielefeld geboren. Die Familie wohnt zu diesem Zeitpunkt in der Rolandstraße 10, nahe Siegfriedplatz und Bürgerpark. Käthe verehrt ihre hochintelligente, selbstbewusste und willensstarke Schwester Anne, während sie mit ihrer Schwester Lise, die sich durch Musikalität und Fürsorglichkeit auszeichnet, eine enge, zugleich aber auch konfliktbehaftete Freundschaft verbindet. Angesichts der beiden älteren Schwestern hat die sensible Käthe von frühester Kindheit an mit Minderwertigkeitskomplexen zu kämpfen, die es ihr erschweren, außerhalb der Familie soziale Kontakte zu knüpfen.
Käthes geringes Selbstwertgefühl wird ab Januar 1933 durch die gesellschaftlichen Folgen der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten weiter erschüttert. In Brackwede, wo die Familie seit Juli 1930 in der Waldstraße 34 (heute Windfang) wohnt, erfährt Käthe als Jüdin zunehmend Ablehnung, Feindseligkeit, und Ausgrenzung.
Als die Familie im Oktober 1933 in die Küglerstraße 16 in Sudbrack zieht, scheint sich die Situation für Käthe zunächst verbessert zu haben. Die Bevölkerung des am damaligen Stadtrand gelegenen Arbeiterviertels ist in den ersten Monaten der Diktatur nicht sonderlich empfänglich für die NS-Propaganda, weshalb Käthe von den Nachbarskindern schnell als Spielkameradin akzeptiert wird. Im Frühjahr 1934 hat sich die Situation allerdings geändert:
„Im Frühling wollten einige Kinder plötzlich nicht mehr mit Lise und Käthe spielen, oder sie wurden von ihren Eltern oder älteren Geschwistern weggeholt, wenn sie mit ihnen spielten – weil sie Juden waren. Es dauerte noch etwa ein Jahr, da wurden sie sogar mit Steinen beworfen. Von da an durften sie den Hof des Mietshauses gegenüber nicht mehr betreten. Als sie das letzte Mal auf dem Hof spielten, goß ihnen eine Frau vom Balkon aus einen Eimer Wasser über den Kopf. Es kam auch vor, daß Erwachsene ihnen im Vorbeigehen Flüche zuriefen.“ (Gershon 1992, S. 75)
Einen persönlichen Höhepunkt erreicht die Ausgrenzung für Käthe kurze Zeit später, als Ingrid, eine Schulkameradin aus der Sarepta-Schule, ihr plötzlich die Freundschaft kündigt und Käthes Poesiealbum mit den Worten zurückgibt: „Ich kann da nichts hineinschreiben. Du mußt wissen, ich bin nämlich ein deutsches Mädchen“ (Gershon 1992, S. 128). Anfang 1936 muss Käthe schließlich die Sarepta-Schule aus politischen Gründen verlassen und beendet das Schuljahr auf der Luisenschule.
Angesichts der immer stärker werdenden sozialen Ausgrenzung wendet sich Käthe zunehmend dem Zionismus zu, dessen Ziel ein unabhängiger jüdischer Nationalstaat in Palästina ist. Käthe schließt sich dem Makkabi-Turn-und-Sportverband an und beginnt, für Veranstaltungen der jüdischen Gemeinde Gedichte zu schreiben, in denen sie zionistische Ideen verarbeitet. Auf diese Weise entdeckt sie erstmals ihr literarisches Talent.
Der Aufenthalt im von Hugo Rosenthal geleiteten jüdischen Landerziehungsheim in Herrlingen bei Ulm, das Käthe von April 1937 bis September 1938 besucht, lässt in ihr letztlich den Entschluss reifen, nach Palästina auszuwandern.
Da Käthe und Lise einen vierwöchigen Kurs der Jugend-Alijah in Rüdnitz absolviert und ein Einwanderungszertifikat für Palästina erhalten haben, kann ihre Mutter sie kurz nach der Reichspogromnacht für einen Kindertransport in die Niederlande anmelden. Weil Anne sich bereits für eine Auswanderung nach England entschieden hat und Selma Löwenthal ihre drei Töchter nicht trennen möchte, lässt sie Käthe und Lise im letzten Augenblick für den zweiten Kindertransport nach England umschreiben. Käthes Eltern wollen das Mädchen den Ernst der Lage nicht spüren lassen:
„Sie sagten ihr nicht, es fällt uns schwer, dich gehen zu lassen, weil es durchaus möglich ist, daß wir einander nie wiedersehen. Im Gegenteil, um dem Kind die Trennung leichter zu machen, hatten sie sich verschworen, so zu tun, als habe dieser Abschied keine Bedeutung […].“ (Gershon 1992, S. 273)
Trotz des in Bielefeld erlittenen Unrechts hat Käthe, die sich später Karen Gershon nennt, bis zu ihrem Tod im März 1993 Sehnsucht nach der Stadt ihrer Kindheit.
Spur aufgenommen und Recherche
Andreas Martin Vohwinkel
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld