Einrichtung eines „Judenreferates“ bei der Gestapo Bielefeld

Gebäude des Polizeipräsidiums in der Viktoriastraße 9.
Gebäude des Polizeipräsidiums in der Viktoriastraße 9. Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/Fotosammlung, Nr. 11-2098-047
1. Oktober 1935
Viktoriastraße 9, 33602 Bielefeld

Zur Entstehung des „Judenreferats“

Die „Judenreferate“ bei den Gestapostellen bildeten sich erst nach dem Erlass der Nürnberger Rassegesetze (15. September 1935) heraus. Bei der Bielefelder Gestapo gehörte die Überwachung des jüdischen Bevölkerungsteils bis dahin in das Sachgebiet „Kirchen, Freimaurer, Juden“.

Die Rassegesetzgebung brachte einen deutlichen Anstieg der Aufgaben und Aktivitäten mit sich. Schon im August 1935 hatte das Geheime Staatspolizeiamt (Gestapa) in Berlin von allen Dienststellen die Führung einer „Judenkartei“, umsetzbar ab 1. Oktober, gefordert. Wurden bisher nur die jüdischen Organisationen mit ihren Mitgliedern erfasst, sollte nun die Erfassung jeder einzelnen Person erfolgen. Die Bielefelder Gestapo war zu diesem Zeitpunkt für etwa 3.000 bis 3.500 Betroffene zuständig.

Zur Organisation und personellen Ausstattung

Die Organisationsstruktur der Gestapostelle Bielefeld änderte sich mehrmals und ist mangels Quellen nicht in allen Details nachvollziehbar. Die personelle Ausgestaltung des Referates liegt ebenfalls weitgehend im Dunkeln. Zum ersten Leiter wurde der zuletzt als Kriminalassistent im Bielefelder Polizeipräsidium tätige Wilhelm Pützer (1893-1945) bestellt. Pützer trat seinen Dienst zum November 1935 an. Weitere Mitarbeiter waren wahrscheinlich der Kriminalassistent Rudolf Elsner, der die „Judenkartei“ führte, und zeitweise der Kriminalsekretär August Solle. Das Referat erhielt bei besonderen Aufgaben (v.a. bei der Abwicklung der Deportationen) Unterstützung durch andere Abteilungen. Mitte 1944 wurde Pützer durch Hermann Peters abgelöst.

Zur Arbeit des „Judenreferats“ bis 1944

Der bürokratische Aufwand der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung war immens. Neben der Führung der Kartei stellte die Überwachung der jüdischen Organisationen vor Ort (Jüdischer Centralverein, Reichsbund jüdischer Frontsoldaten, Jüdischer Kulturbund, Zionistische Arbeitskreise, usw.) wie auch der Synagogengemeinden die Gestapo vor erhebliche personelle Probleme. Jede Veranstaltung musste vorher genehmigt werden. Ein Bericht der Bielefelder Dienststelle von Ende 1935 hob hervor, dass alles, was zur Aufführung oder zum Vortrag gelangen sollte, vorher zu lesen und zu zensieren sei.

Das „Judenreferat“ wurde auch in Angelegenheiten um die Auswanderung, um die Vergabe von Gewerbescheinen oder in Fällen sogenannter Rassenschande beteiligt. Mit Beginn des Krieges kamen die Organisation und Kontrolle von zahlreichen repressiven Maßnahmen hinzu. Besonders arbeitsintensiv aber waren Maßnahmen wie die Verschleppung von über 400 jüdischen Männern („Aktionsjuden“) aus dem Gestapobezirk ins Konzentrationslager Buchenwald im November 1938, mehr noch die Abwicklung der Deportationen von Dezember 1941 bis Juni 1943. In deren Organisation und Durchführung war ein Großteil des Personals der Dienststelle involviert.

Ab Mitte 1939 griffen die Gestapostellen auf die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD), eine Zwangsorganisation unter Kontrolle des Reichssicherheitshauptamts, als Instrument zurück. Das Bielefelder „Judenreferat“ bediente sich der RVJD-Bezirksstelle Westfalen in Bielefeld und nach deren Auflösung im Juni 1943 bis Kriegsende des RVJD-Vertrauensmannes für die Regierungsbezirke Minden, Münster und das Land Lippe, Louis Sternberg aus Paderborn.

Das „Judenreferat“ ab 1944

Mit zwei Transporten vom Mai und Juni 1943 waren die letzten nicht durch „Mischehe“ geschützten jüdischen Frauen und Männer aus dem Gestapo-Bezirk Bielefeld abgeschoben worden. Personell wurde es anschließend sowohl in der Leitstelle Münster als auch in der Außenstelle Bielefeld verschlankt. Auf Wilhelm Pützer folgte Mitte des Jahres der Kriminalsekretär Hermann Peters (1906-1986). Dieser war nur noch für die in „Mischehe“ lebenden Jüdinnen und Juden (in Bielefeld 39) und mehrere „jüdische Mischlinge“ zuständig.

Dienstsitze

Das „Judenreferat“ begann seine Tätigkeit im November 1935 noch in der Viktoriastraße 9, bevor es mit der gesamten Dienststelle Anfang 1936 in den Siekerwall 9 umzog. Nach der Zerstörung des Gebäudes durch Bomben Ende September 1944 kam der „Judenreferent“ Hermann Peters im Upmannstift in der Upmannstraße 29 unter. Ob im März 1945 noch ein Wechsel ins Gebäude Dornberger Straße 2 erfolgte, ist unklar.

Spur aufgenommen und Recherche
Jürgen Hartmann

Literatur

  • Berschel, Holger, Bürokratie und Terror, Das Judenreferat der Gestapo Düsseldorf 1935-1945, Essen 2001.
  • Hartmann, Jürgen, Bürokraten der Vernichtung. Die Gestapo Bielefeld und die nationalsozialistische Judenverfolgung. (Arbeitstitel; erscheint 2024/25)
  • Hartmann, Jürgen, Die Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland in Bielefeld 1939 bis 1943, in: Rosenland, Zeitschrift für lippische Geschichte, Nr. 25 (Juli 2021), S. 68-151. URL
  • Hartmann, Jürgen, Ein Kollaborateur der Gestapo? Louis Sternberg aus Paderborn als Vertrauensmann der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland, in: Rosenland, Zeitschrift für lippische Geschichte, Nr. 28 (September 2023), S. 177-213. URL
  • Hey, Bernd, Zur Geschichte der westfälischen Staatspolizeistellen und der Gestapo, in: Westfälische Forschungen, Nr. 37 (1987), S. 58-90
  • Mallmann, Klaus-Michael/Paul, Gerhard (Hrsg.), Die Gestapo – Mythos und Realität, Darmstadt 1996
  • Mallmann, Klaus-Michael/Paul, Gerhard (Hrsg.), Die Gestapo im Zweiten Weltkrieg. „Heimatfront“ und besetztes Europa, Darmstadt 2000
  • Meier, Marion, Im Teuto versteckt und überlebt. Dr. Sommers Bielefelder Jahre als Martin Goldstein 1927-1947. Bielefeld 2013
  • Wagner, Bernd J., Die Deportationen aus Bielefeld und Ostwestfalen 1941-1945, in: Asdonk, Jupp / Buchwald, Dagmar / Havemann, Lutz / Horst, Uwe / Wagner, Bernd J. (Hrsg.), „Es waren doch unsere Nachbarn!“, Deportationen in Ostwestfalen-Lippe 1941-1945 (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 24), Bielefeld 2012, S. 70-127

Quellen

  • Bundesarchiv, Z 42 IV Nr. 6740
  • Bundesarchiv, R 8150
  • Landesarchiv NRW Abt. OWL, D 21 A Nr. 4852
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