Johanne Horstmann wird in das Gerichtsgefängnis Bielefeld eingeliefert. Sie kam nie wieder frei.

Hof Hallerberg in Altenhagen, 2023
Hof Hallerberg in Altenhagen, 2023. Privatbesitz: Gerlinde Bartels
Hof Hallerberg mit dem früheren Kotten Hallerberg im Hintergrund, 2024
Hof Hallerberg mit dem früheren Kotten Hallerberg im Hintergrund, 2024. Privatbesitz: Gerlinde Bartels
Stolperstein für Johanne Horstmann, Altenhagener Straße 223-225 in Bielefeld
Stolperstein für Johanne Horstmann, Altenhagener Straße 223-225 in Bielefeld. Privatbesitz: Gerlinde Bartels
6. November 1941
Altenhagener Straße 223-225, 33729 Bielefeld

Verfolgungsschicksal und Tod

Die seinerzeit kaum 21-jährige Johanne Horstmann stammt aus Altenhagen, heute Bielefeld, und war zuletzt Arbeiterin in der Ravensberger Spinnerei. Ins Visier der NS-Aufsichts- und Verfolgungsbehörden war sie bereits 1939 geraten, als sie wegen einer sexuell übertragbaren Erkrankung in das Provinzialkrankenhaus Benninghausen (heute Lippstadt) eingewiesen wurde.  Eine derartige Infektion bei einer sehr jungen und unverheirateten Frau galt seinerzeit bereits als Indiz, wenn nicht sogar als Beweis für einen „asozialen“ Lebenswandel und führte nicht selten zu behördlichen Maßnahmen, insbesondere wenn andere „Indizien“, z.B. Wohnortwechsel oder Aufenthalt in Gaststätten hinzukamen. Nach dem Krankenhausaufenthalt wurde sie zur Arbeit in der kriegswichtigen Textilindustrie verpflichtet.

Wiederholt geriet sie in der Folgezeit in Konflikt mit dem Gesetz. Es handelte sich zunächst um kleinere Diebstähle und Betrug, eher Bagatellen als Verbrechen. Schließlich blieb sie der Arbeit fern, was seinerzeit als Arbeitsverweigerung und als schwere Straftat gewertet wurde. Die Summe dieser Vergehen, verbunden mit einem unsteten Leben, wechselnden Wohnorten, zeitweiser Obdachlosigkeit und wechselnden Männerbekanntschaften, führten schließlich in Herford am 4. November 1941 zur Verhaftung und letztlich zum Tod. Sie wurde zunächst am 6. November 1941 nach Bielefeld in das Polizeigefängnis gebracht. Eine nachfolgende 20-monatige Gefängnisstrafe verbüßte Johanne Horstmann im Strafgefangenenlager Oberems/Gütersloh. In einem der zugehörigen Außenlager in Wiedenbrück wurde sie für Arbeiten in der Rüstungsindustrie eingesetzt. Danach, im Herbst 1943, wurde sie in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück überführt. Dort starb sie kaum ein Jahr später am 29. August 1944, angabemäßig an Tuberkulose.

Biografische Notizen

Johanne Horstmann war das siebte von neun Kindern eines Tagelöhner-Ehepaares. Sie wuchs in einer ländlichen Region bei Bielefeld auf. Nach sieben Jahren Volksschule arbeitete sie als Näherin oder als Hausangestellte. Ab etwa 1939, also kaum 19 Jahre alt und nach damaligem Recht noch minderjährig, führte sie ein unruhiges Leben mit zeitweiser Obdachlosigkeit. Wahrscheinlich hätte sie eher des Schutzes und der Fürsorge bedurft als der polizeilichen Überwachung.

Über ihre Person ist so gut wie nichts bekannt, ebenso nicht über die häusliche Atmosphäre, den familiären Zusammenhalt oder über sonstige persönliche Beziehungen. Ein Foto von ihr konnte nicht gefunden werden, eventuell noch lebende Angehörige wurden nicht ermittelt.

Nachleben

Johanne Horstmann galt im NS-Staat als sogenannte „Asoziale“. Seinerzeit genügten wiederholte kleinere Straftaten, um als „asozial“ gebrandmarkt zu werden. Wechselnde Wohnorte, Obdachlosigkeit und/oder eine sexuell übertragbare Erkrankung bei einer sehr jungen, unverheirateten Frau bestärkten dieses Urteil. Es bedeutete Ausgrenzung, Inhaftierung und schließlich Vernichtung.

Die „Asozialen“ wurden lange Zeit nicht als NS-Geschädigte anerkannt, ebenso wie beispielsweise Homosexuelle, Kriegsdienstverweigerer oder Sinti und Roma. Sie alle hatten noch Jahrzehnte lang keinen Anspruch auf staatliche Wiedergutmachungsleistungen. Oft blieben sie auch im Privatleben ausgegrenzt, da sich die Angehörigen ihrer straffällig gewordenen Familienmitglieder schämten.

Erst im Jahr 2020 wurden als letzte der Betroffenengruppen auch die „Asozialen“ durch einen Beschluss des Bundestages offiziell als NS-Verfolgte anerkannt. Jeglicher Aufenthalt in einem Konzentrationslager, gleich mit welcher Begründung, galt nun als NS-Unrecht.

Für Johanne Horstmann wurde im Jahr 2011 auf Initiative des Heimat- und Geschichtsvereins Heepen und unter Mitwirkung der „Initiative Stolpersteine-Bielefeld“ und des Stadtarchivs Bielefeld ein Stolperstein verlegt. Er befindet sich in der Nähe ihres Geburtshauses und letzten Wohnortes auf dem Rad- und Gehweg bei Hof Hallerberg an der Altenhagener Straße 223-225 in Bielefeld.

Spur aufgenommen und Recherche
Gerlinde Bartels
Stolperstein-Initiative Bielefeld e.V.

Literatur

  • Buchmann, Erika, Die Frauen von Ravensbrück, Berlin 1959
  • Haberlah, Daniel, Als „Asoziale“ nach Ravensbrück. Das kurze Leben der Irmgard Plättner. Eine Spurensuche, Schellerten 2001
  • Halbmayr, Brigitte, Brüchiges Schweigen. Tod in Ravensbrück – auf den Spuren von Anna Burger, Wien 2023
  • Heimat- und Geschichtsverein Heepen e.V. (Hrsg.), Opfer und Gefallene des Zweiten Weltkriegs im Kirchspiel Heepen. Wissenschaftliches Gedenkbuch, Bielefeld 2021
  • Isernhinke, Karina, Das Strafgefangenenlager Oberems. Das nationalsozialistische Lagersystem im Gebiet des heutigen Kreises Gütersloh, Bielefeld 2015
  • Kiedrzynska, Wanda, Das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, in: Internationale Hefte der Widerstandsbewegung, Nr. 3 (1960), S. 306-322
  • Knobelsdorf, Andreas / Minniger, Monika / Sunderbrink, Bärbel, „Das Recht wurzelt im Volk“. NS-Justiz im Landgerichtsbezirk Bielefeld, Katalog zur Ausstellung des Stadtarchivs vom 17. September bis 31. Oktober 1992, Bielefeld 1992
  • Knobelsdorf, Andreas, Politische Strafjustiz in Ostwestfalen-Lippe von 1933 – 1945 und ihre Verarbeitung nach 1945, Ein Forschungs- und Seminarbericht, in: 78. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg (1990), S. 173-242
  • Kocwa, Eugenia, Flucht aus Ravensbrück, Berlin 1973
  • Ellings-Ruhwinkel, Elisabeth, Das Arbeitshaus Benninghausen (1871-1945), Paderborn 2005
  • Marx, Henry, Arbeitsverwaltung im Nationalsozialismus: Disziplinierung und Gewalt, in: Eden, Sören (Hrsg.), Das Reichsarbeitsministerium 1933-1945. Beamte im Dienst des Nationalsozialismus, Berlin 2019, S. 110-141
  • Minninger, Monika, Politisch und religiös Verfolgte in Stadt und Kreis Bielefeld, in: Meynert, Joachim / Klönne, Arno (Hrsg.), Verdrängte Geschichte. Verfolgung und Vernichtung in Ostwestfalen 1933 – 1945, Bielefeld 1986
  • Schikorra, Christa, Kontinuitäten der Ausgrenzung. „Asoziale“ Häftlinge im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück, Berlin 2001
  • Sommer, R., Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Paderborn 2009
  • Van Norden, Jörg, Das Strafgefangenenlager Oberems, in: 96. Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg (2011), S. 99-128

Quellen

  • Adreßbuch des Stadt Bielefeld, 1934/1935. URL
  • Adreßbuch für den Stadt- und Landkreis Bielefeld 1940. URL
  • Hessisches Hauptarchiv Wiesbaden, Verzeichnisse des RKPA Berlin über Todesfälle von erkennungsdienstlich behandelten Personen, sogenannte “Berliner Listen”, ITS Digital Archive, Arolsen Archives / 1.2.2.1 / 11663956
  • Institut für Nationales Gedenken, Warschau (Instytut Pamieci Narodowej, IPN): Veränderungsmeldung des KL Ravensbrück (Frauen): 30.08. – 31.12.1943, ITS Digital Archive, Arolsen Archives/2147002 URL
  • LAV OWL, Bestand D 21 A, Nr. 136 Sondergericht, Sondergericht Bielefeld
  • LAV OWL, Bestand D 22 Gütersloh, Nr. 7252 Justizvollzugsanstalt Gütersloh
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 102,3/Magistrat Verschiedenes, Nr. 409
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,2.20/Standesamt
    • Nr. 105-1907: Geburtenregister Heepen, 1907 (Eintrag Nr. 28)
    • Nr. 205-1904: Heiratsregister Heepen, 1904 (Eintrag Nr. 99)
    • Nr. 205-1933: Heiratsregister Heepen, 1933 (Eintrag Nr. 46)
    • Nr. 205-1939: Heiratsregister Heepen, 1939 (Eintrag Nr. 78)
    • Nr. 213-1926: Heiratsregister Sieker, 1926 (Eintrag Nr. 29)
    • Nr. 300-1963-3: Sterberegister Bielefeld, 1963, Bd. 3 (Eintrag Nr. 2094)
    • Nr. 300-1981-1: Sterberegister Bielefeld, 1981, Bd. 1 (Eintrag Nr. 42)
    • Nr. 305-1905: Geburtenregister Bielefeld, 1905 (Eintrag Nr. 31)
    • Nr. 305-1918-1919: Sterberegister Heepen, 1918-1919, (Einträge Nr. 13/1918, Nr. 16/1918 u. Nr. 44/1918)
    • Nr. 305-1960: Sterberegister Heepen, 1960 (Eintrag Nr. 1)
    • Nr. 305-1971: Sterberegister Heepen, 1971 (Eintrag Nr. 22)
  • Bestand 104,2.21/Standesamt, Namensverzeichnisse, Nr. 305,1: Namensverzeichnis zum Sterberegister Bielefeld, 1891-1922
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt,
    • Nr. 18: Meldekartei Bielefeld, 1920-1958
    • Nr. 19: Meldekartei Bielefeld, Abgänge 1958-1984
    • Nr. 20: Meldekartei Bielefeld, Stand 1984
    • Nr. 25: Meldekartei Heepen, Abgänge 1935-1984
    • Nr. 27: Meldekartei Gadderbaum, Abgänge, Stand, 1930-1960
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 130,4/Amt Heepen, Nr. 5399
Veröffentlicht am und aktualisiert am 19. Februar 2024

Kommentieren Sie den Beitrag

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert **

Themen
  • Arbeitslager
  • Ereignis
  • Jugend
  • Nazi-Organisation
  • Person
  • Verfolgung
  • Widerstand
  • Alle Kategorien aktivieren
Navigiere zu