“Tante Jenny hat in Bielefeld in einem großen Warenhaus gearbeitet. Sie war immer ‚Grande Dame‘. Ich erinnere mich, da war ich ungefähr neun Jahre alt, und sie wollte, dass ich ihr einen Kuss gebe. Da habe ich gesagt: ‚Alte Frauen küss‘ ich nicht‘. ‚Alte Frau‘ war ungefähr 45 Jahre alt. Und dann bekam ich noch eine Rote-Kreuz-Karte nach Palästina, und da schrieb sie: ‚Bist du jetzt bereit, mich zu küssen?‘” (Decker, Heimweh 2007, S. 165)
Diese Geschichte berichtet ihr Neffe Jehonathan Kinarty nach dem Krieg.
Jenni Grünewald (*19. August 1885) war die Tochter von Louis und Julie Grünewald aus Bielefeld. Der Vater war von Beruf Metzger und Pferdeschlachter. Seine beiden Söhne, Albert und Fritz, sollten in seine Fußstapfen treten. Beide übernahmen nach dem Tod des Vaters das Unternehmen als Rosshändler und Pferdefleischer. Helmut, ein Sohn Alberts, erinnert sich nach dem Krieg:
„Mein Vater, von Beruf Pferdehändler, war gleichzeitig Partner seines Bruders Fritz in der von den Eltern ererbten Pferdeschlachterei in der Gütersloher Straße, mit Filialen in der Ziegelstraße und in Schildesche. Das Geschäft hatte sicherlich seine Höherpunkte im 1. Weltkrieg, während der Inflation und in der späteren Rezession. Inzwischen wurden Pferde vielfach durch Autos und Traktoren ersetzt. Dennoch hatten wir bis 1933 keine wirtschaftlichen Sorgen. Doch zu Reichtümern ist es trotz bescheidener Lebensweise nie gekommen. In den frühen dreißiger Jahren reiste unser Vater zweimal im Jahr zu den Pferdemärkten in Wehlau in Ostpreußen und nach Litauen, um dann mit der Eisenbahn eine Ladung Pferde nach Bielefeld zurückzubringen. Begleitet von einem Gesellen und beladen mit Schießeisen und viel Bargeld trat er die Reise an. Selber schlief er im Waggon bei der wertvollen Ladung Pferde. Ja, unser Vater war ein sehr fleißiger Mann, der das Wohl der Familie allzeit im Auge hatte. Doch dann war es vorbei mit dem Geschäft. [Das] Berufsverbot durch die Nazis bereitete dem Geldverdienen ein Ende. Selbst das Bargeld bei der ‚Gewerbebank‘ durfte nur in kleinen Raten in Anspruch genommen werden. […] Nach dem Tod unseres Vaters 1942 sind Mutter und Geschwister deportiert worden“ (Decker, Heimweh 2007, S. 66 f.).
Jenny hingegen machte eine ganz andere Karriere. Als Sohn und Schwester von Metzgern machte sie eine kaufmännische Lehre und wurde Modistin. Helga Ravn, eine Nichte, erinnert sich nach dem Krieg: „Tante Jenny war sehr elegant“. Sie arbeitete später auch als Einkäuferin bei der Firma Rosenbaum in Soest. Doch mit Beginn der Repressionen gegen jüdische Deutsche begann es auch Jenny schlechter zu gehen: 1940 teilte sie der Devisenstelle beim Oberfinanzpräsidenten in Münster mit, dass sie seit fast neun Jahren an einer Nerven- und Blutkrankheit leide. Sie wohnte lange Zeit in der Gütersloherstraße 72 (heute Arthur-Ladebeck-Straße 60), ihrem Elternhaus. Zuletzt lebte sie jedoch in der Gütersloherstraße 74 – das Haus steht heute nicht mehr. Am 13. Dezember 1941 wurde sie in das Rigaer Ghetto deportiert – anschließend wurde sie am 5. November 1943 im Vernichtungslager Auschwitz ermordet.
Seit dem 16. Dezember 2021 liegt vor dem Haus Artur-Ladebeck-Straße ein Stolperstein.
Spur aufgenommen und Recherche
David Hecken
Landesarchiv Nordrhein Westfalen – Abteilung OWL