Friedrich v. Bodelschwingh und die „Aktion T4“

Friedrich v. Bodelschwingh im Jahr 1933. Von 1910 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 war er Anstaltsleiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten (heute Stiftungen) Bethel.
Friedrich v. Bodelschwingh im Jahr 1933. Von 1910 bis zu seinem Tod im Jahr 1946 war er Anstaltsleiter der v. Bodelschwinghschen Anstalten (heute Stiftungen) Bethel. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel F 112
Der Aufgang zum Haus Burg, der ehemaligen Betheler Hauptkanzlei, um 1940.
Der Aufgang zum Haus Burg, der ehemaligen Betheler Hauptkanzlei, um 1940. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel FD 823
Karte der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel um 1930.
Karte der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel um 1930. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel unverzeichnet
25. Juli 1940
Königsweg 3, 33617 Bielefeld

Der Vorstand der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel tagte am 25. Juli 1940 im Haus Burg, dem Sitz der Hauptverwaltung und gleichzeitig Wohnhaus des Anstaltsleiters Friedrich v. Bodelschwingh (1877-1946). Hier wurde unter Federführung von Bodelschwingh am 25. Juli 1940 ein bedeutender Beschluss gefasst: „die Ausfüllung der Fragebogen, die der Anstalt zugesandt wurden“ sei abzulehnen.

Was wusste Bodelschwingh?

Es ging um die Meldebögen innerhalb der „Aktion T4“, die im Oktober 1939 unter höchster Geheimhaltung begonnen hatte. Und so durchschauten die Heil- und Pflegeanstalten im Deutschen Reich erst nach und nach, was vor sich ging. Für die Innere Mission (heute Diakonie) war Friedrich v. Bodelschwingh damit beauftragt, die Hintergründe zu eruieren, zusammen mit seinem Amtskollegen Paul Gerhard Braune, Leiter der Betheler Zweiganstalt Lobetal bei Berlin. Seit etwa Anfang April 1940 war das Wissen konkreter: In Anstalten sollte das Personal jeden einzelnen Patienten anhand eines Meldebogens erfassen. Diese Formulare sollten zum Reichsinnenministerium zurückgeschickt und von externen Gutachtern in Hinblick auf Diagnose und Arbeitsfähigkeit ausgewertet werden. Ohne den Menschen je gesehen zu haben, wurde dann über Leben und Tod entschieden. Die selektierten Menschen wurden aus den Anstalten abgeholt und in Gasmordanstalten umg

Wie handelte Bodelschwingh?

3.000 dieser Meldebögen wurden am 14. Juni 1940 aus dem Reichsinnenministerium an Bethel verschickt. Die dort lebenden Menschen mit Epilepsie, Behinderungen und psychischen Erkrankungen waren nunmehr von der „Euthanasie“ bedroht.

Bereits seit Anfang Januar 1940 agierte Bodelschwingh gegen die Kranken- und Behindertenmorde. Dabei leistete er keinen lautstarken Protest, sondern setzte auf seine kommunikativen Fähigkeiten. In Briefen an Behörden und Parteifunktionären und in Gesprächen mit führenden Personen des NS-Staates kritisierte Bodelschwingh die Krankentötungen. In der historischen Forschung wird dieses Handeln als „verzögernder Widerstand“ (Kaminsky 2020, 85) bezeichnet.

Bodelschwingh bekam die Repressionen des nationalsozialistischen Staates zu spüren: Am 26. Juli 1940 kamen Herbert Linden, aus dem Reichsinnenministerium und Viktor Brack von der Kanzlei des Führers nach Bethel, setzten Bodelschwingh beim Ausfüllen der Meldebögen unter Druck, drohten ihm mit der Schließung der Anstalt und teilten ihm mit, seine Verhaftung sei bereits beschlossene Sache. Als im Februar 1941 eine staatliche Ärztekommission nach Bethel kam, um nunmehr selbst die Meldebögen auszufüllen, hatte sich die Anstalt zu einem schwierigen Schritt entschlossen: Die Ärzte führten eine Vorkategorisierung aller Patienten und Patientinnen durch, untersuchten sie und teilten sie in Kategorien ein. Ziel war es, eine willkürliche Selektion zu umgehen. In der Abschlussbesprechung mit der staatlichen Ärztekommission machte Bodelschwingh seine Beweggründe deutlich: Wenn die Listen für den Abtransport kämen, „habe der leitende Arzt dann die Möglichkeit, bei einzelnen Namen Einspruch zu erheben.“ Aber nur, so hatte es die staatliche Ärztekommission ausgehandelt, wenn „es sich dabei um sachliche Einwendungen und nicht um den Versuch einer Hinausschiebung“ handelt, könne „der Fall zu nochmaligen Prüfung zurückgestellt“ werden. Was zum Schutz der Patienten und Patientinnen gedacht war, war jedoch eine schwierige Gradwanderung, die Bodelschwingh in der historischen Forschung der 1990er Jahre den Vorwurf einer teilweisen Kollaboration mit dem nationalsozialistischen Staat einbrachte (Benad in Hochmuth 1997, XXVII). Nach dem Abzug der Ärztekommission musste Bethel damit rechnen, dass 446 Männer und Frauen der „Euthanasie“ zum Opfer fallen könnten. Dazu kam es nicht, denn im August 1941 wurde die „Aktion T4“ offiziell eingestellt.

Doch für Anstaltsleiter Bodelschwingh waren die Sorgen um die in Bethel lebenden Menschen noch lange nicht vorbei. Im Kriegsverlauf verschlechterten sich die Lebensbedingungen durch die desolate Versorgungslage und die Zerstörung einzelner Betheler Pflegehäuser durch Luftangriffe.

Spur aufgenommen und Recherche
Kerstin Stockhecke
Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel

Literatur

  • Benad, Matthias, „… unter Einsatz aller unserer Kräfte Anwälte unserer Kranken sein.“ Bethel und die nationalsozialistischen Krankenmorde – ein Überblick über den Stand der Forschung, in: Benad, Matthias / Schmuhl, Hans-Walter / Stockhecke, Kerstin (Hrsg.), Bethels Mission 4. Beiträge von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Psychiatriereform, Bielefeld 2016, S. 17-28.
  • Hochmuth, Anneliese, Spurensuche. Eugenik, Sterilisation, Patientenmorde und die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel 1929-1945, hrsg. von Matthias Benad, Bielefeld 1997.
  • Kaminsky, Uwe, Paternalistische Verschwiegenheit. Bethel, die Zwangssterilisation und die NS-„Euthanasie“, in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 89 (2020), S. 69-87.

Quellen

  • Protokoll der „Schlussbesprechung“ nach dem Besuch der Ärztekommission, Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel 2/39-188.
  • Situation um den Besuch von Brack und Linden, Archiv der Evangelischen Kirche im Rheinland Best. 5WV 051, Nr. 2110 (Schreiben Bodelschwingh an Ohl, 5.8.1941).
  • Vorstandsbeschluss v. 25.7.1940, Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel 2/39-187.
Veröffentlicht am und aktualisiert am 14. Dezember 2021

Kommentieren Sie den Beitrag

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind markiert **

Themen
  • Arbeitslager
  • Ereignis
  • Jugend
  • Nazi-Organisation
  • Person
  • Verfolgung
  • Widerstand
  • Alle Kategorien aktivieren
Navigiere zu