Erna Kronshage wird in die Heilanstalt Gütersloh eingewiesen

Portrait von Erna Kronshage, ca. 1942.
Portrait von Erna Kronshage, ca. 1942. Bildrechte: Edward Wieand. URL
Erna Kronshage auf dem Hof ihrer Eltern mit Leiterwagen.
Erna Kronshage auf dem Hof ihrer Eltern mit Leiterwagen. Bildrechte: Edward Wieand. URL
24. Oktober 1942
Verler Straße 76, 33689 Bielefeld

Erna Kronshage wird am 12. Dezember 1922 im damaligen Senne II (heute: Bielefeld-Sennestadt) als elftes und jüngstes Kind geboren. Sie arbeitet nach der Schulzeit ab 1937 als Haustochter auf dem Bauernhof ihrer Eltern in der heutigen Verler Straße 76 in Bielefeld-Sennestadt – früher Senne II, Nr. 6

Im Herbst 1942 kommt Erna plötzlich ihren verpflichtenden Kriegs-Aufgaben als Jugendliche im Dienst in der Landwirtschaft „zur Ernährung des Deutschen Volkes“ nicht mehr nach – wohl aus Gründen einer heillosen Überforderung als einzige noch verbliebene reguläre Mitarbeiterin auf dem Hof (die älteren Schwestern wohnen außerhalb, die Brüder sind im Fronteinsatz im Krieg) – sowie dem traumatisch erlebten Bombengeschehen der immer näher herankommenden Kriegsereignisse. Sie wird sie von der NSV-Gemeindefürsorgerin zu einer amtsärztlichen Untersuchung geschickt, um ihre grundsätzliche Dienstfähigkeit ärztlich zu prüfen.

Nun aber begeht Erna den verhängnisvollen Fehler, sich selbst gegen den Willen der Eltern in die Heilanstalt Gütersloh einweisen zu lassen. Zu dieser Selbsteinweisung wird sie wohl von ihrer Schwester Frieda angestiftet, die drei Jahre zuvor in der Heilanstalt Gütersloh wegen eines Erregungszustandes in Folge eines Streits am Arbeitsplatz behandelt und nach vier Wochen erholt und beschwerdefrei entlassen wurde. Und so wünscht sich Erna wohl auch eine rasche Wiedererstarkung.

Selbsteinweisung in Gütersloh

Am 24. Oktober 1942 trifft Erna in Gütersloh ein. Dort diagnostiziert der Aufnahmearzt ad-hoc eine „Schizophrenie“, die man stationär durch Arbeitstherapie und Schocktherapien behandelt, die aber keinerlei rasche Erholungsaspekte beinhaltet – im Gegenteil: Aufgrund dieser, nach damaligem Verständnis “Erbkrankheit” stellt der Direktor der Heilanstalt den Antrag auf „Unfruchtbarmachung“, gemäß dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, wogegen der Vater Adolf Kronshage vehement Einspruch erhebt und auch die Diagnose insgesamt bezweifelt.

Das Erbgesundheitsobergericht in Hamm weist die vehementen Einsprüche und Einlassungen des Vaters in zweiter Instanz zurück: Die Zwangssterilisierung erfolgt somit am 4. August 1943. Erna ist da gerade 20 Jahre alt. Wiederholte Aufforderungen des Vaters zur Entlassung seiner Tochter aus der Anstalt, die jetzt formal nach der Sterilisierung hätte erfolgen können, werden aber weiterhin permanent ignoriert.

Im Laufe der Schaffung von Bettenkapazitäten für Lazarett- und Krankenhauszwecke zur Versorgung von Akut-Kriegsverletzten werden u.a. am 12. November 1943 aus Gütersloh mit den dadurch „überzähligen 50 Patientinnen und 50 Patienten in die Anstalt „Tiegenhof“ bei Gnesen im besetzten Polen verbracht, die unter der deutschen Besatzung zu einer industriell funktionierenden Massentötungsanstalt umfunktioniert wurde – von ihnen sterben allein dort 90 Patientinnen und Patienten.

Tod und Rückführung

Dort verstirbt auch Erna Kronshage am 20. Februar 1944 an „vollkommener Erschöpfung“, wie es die von den deutschen Besatzungs-Sonderstandesbeamten ausgestellte Sterbeurkunde ausweist. In einem erst jetzt ausgewerteten Sterbebuch der Anstalt Tiegenhof wird auch der „19.2.1944“ als Datum des Ablebens benannt. Über die Heilanstalt Tiegenhof ist bekannt, dass gezielt  Schlafmittel-Übermedikationen mit nährwertarmen  Speisen gegeben wurden, die allmählich zum Tod der Patientinnen und Patienten führten. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist auch Erna Kronshage dieser Tötungs- oder Mordpraxis zum Opfer gefallen.

Ihre Leiche wird im Sarg auf Antrag der Eltern ca. 630 Bahnkilometer rücküberführt, in einem Extra-Güterwaggon – und wird – nach einer familieninternen laienhaften Leicheninspektion – auf dem Friedhof in Senne II am 5. März 1944 beigesetzt.

Spur aufgenommen und Recherche
Edward Wieand
https://www.eddywieand-sinedi.de 

Literatur

  • Klee, Ernst, “Euthanasie” im Dritten Reich. Die “Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a.M. 2010
  • Schwanke, Enno, Die Landes Heil- und Pflegeanstalt Tiegenhof, Die Nationalsozialistische Euthanasie in Polen während des zweiten Weltkrieges Frankfurt a.M. 2015
  • Walter, Bernd, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996

Quellen

  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 106,1/Gesundheitsamt, Nr. 1970
  • MUZEUM MARTYROLOGICZNE W ŻABIKOWIE, Sterbebuch “Tiegenhof”/Dziekanka
Veröffentlicht am

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