Dorothea Ahrndt (1916-1940) – jüdische Patientin in Bethel

Das Haus Bersaba, Mitte der 1930er Jahre. Hier hat Dorothea Ahrndt seit März 1936 gelebt.
Das Haus Bersaba, Mitte der 1930er Jahre. Hier hat Dorothea Ahrndt seit März 1936 gelebt. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel FD 276
Das Dokument vom 30. August 1940 verdeutlicht die Ausführung des Erlasses des Reichsinnenministeriums.
Das Dokument vom 30. August 1940 verdeutlicht die Ausführung des Erlasses des Reichsinnenministeriums. Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel BeKa 1, 38
21. September 1940
Ebenezerweg 10, 33617 Bielefeld

Am 21. September 1940 wurde Dorothea Ahrndt aus ihrem Betheler Pflegehaus in die Provinzialheilanstalt Wunstorf gebracht. Sie lebte seit 1935 in Bethel, erst im Haus Alt-Bethphage, dann in Bethabara und schließlich in Bersaba. Dorothea Ahrndt wies eine angeborene Syphilis auf, in deren Folge epileptische Anfälle auftraten; sie galt auch als „schwachsinnig“. Die verminderte Intelligenz konnte sowohl durch die Grunderkrankung als auch durch die Epilepsie oder durch die verabreichten Medikamente verursacht worden sein. Um sie kümmerten sich ihr Vormund Dr. Erich Rosenbaum aus Bünde und ihre Tante Dr. med. Sophie Breyer-Herzberg (1882-1974), später der Kaufmann Willy Spanier aus Bünde, denn die 18-jährige Dorothea war bei ihrer Aufnahme Vollwaise. Dorothea galt nach nationalsozialistischen Rassekriterien als Jüdin. Zunächst war dies in Bethel nicht von Belang. Die Vormunde baten um Berichte, wie es Dorothea gesundheitlich gehe. So heißt es beispielsweise:

Sie ist in hohem Maße erregbar, steigert sich um Kleinigkeiten Willen in Wut hinein, zankt mit Mitkranken und Schwestern, zeigt sich dann sehr angriffslustig. Wirft und schlägt mit Gegenständen. Sie muss daher häufig abgesondert werden, die Verabfolgung beruhigender Medikamente ist oft notwendig. Ruhigere Zeiten sind auch zu verzeichnen, sie sind aber nur von kurzer Dauer. Sie wird im Rahmen der Arbeitstherapie mit leichten Handarbeiten beschäftigt. Der körperliche Gesundheitszustand ist ein guter. Aussicht auf Besserung des Leidens in absehbarer Zeit besteht nicht. Anstaltsbehandlung nicht zu umgehen.“ (HAB Sonderbestand 3)

Im Jahr 1938 erhielten auch die jüdischen Pfleglinge in den Betheler Häusern einen Zwangs-Zweitnamen, die männlichen „Israel“, die weiblichen „Sara“, so auch Dorothea.

Die Sonderaktion gegen jüdische Anstaltspatienten im Rahmen der „Aktion T4“

Im Jahr 1940 wurde mit großer Vehemenz durchgesetzt, dass Menschen mit jüdischem Glauben und jüdischer Herkunft in separaten Anstalten behandelt werden müssen. Grundlage war ein Erlass des Reichsinnenministeriums, der verlangte, alle jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner aus psychiatrischen Anstalten binnen dreier Wochen zu erfassen. Von Bethel wurden 14 Bewohner und Bewohnerinnen benannt; sieben wurden am 21. September 1940 in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf in Niedersachsen gebracht. Am 27. September 1940 verlegte man sie – so auch Dorothea Ahrndt – in die Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel. Dort wurden sie noch am selben Tag mit Gas umgebracht. Die Ermordung von Anstaltspatienten mit der Zuschreibung „jüdisch“, erfolgte in einer Sonderaktion im Rahmen des „T4-Krankenmordes“. Der Unterschied war, dass auf die Meldebögen der „T4-Mordaktion“ verzichtet wurde, die Bezeichnung „jüdisch“ galt als ausreichend, um sie zu töten. Im März 1941 erreichte Dorotheas Vormund ein Schreiben aus der polnischen Irrenanstalt Chelm, wonach Dorothea Ahrndt dort am 4. März 1941 an Ruhr verstorben war. Diese Anstalt existierte nicht mehr, seit die etwa 440 Pfleglinge dort im Januar 1940 von SS-Einheiten ermorden worden waren. Es gab sie nur noch als fiktive Anstalt zur Tarnung der Ermordung jüdischer Kranker. Jüdische Patienten haben Chelm oder Cholm nie erreicht, sie wurden in den Tötungsanstalten ermordet, meist am Ankunftstag, die bürokratische Abwicklung erfolgte in Berlin. Die Pflegekosten wurden häufig der zwangsweise geschaffenen Reichsvereinigung der Juden in Rechnung gestellt, ebenso die Beerdigungs-, bzw. Einäscherungskosten. Diese Sonderaktion zieht sich als eine historische Linie – wie schon der französische Historiker Léon Poliakov in den 1950er Jahren aufgezeigt hatte – bis in den Holocaust.

An Dorothea Ahrndt erinnert ein Stolperstein vor dem Haus Bersaba am Ebenezerweg 10.

Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Marion Hulverscheidt
Universität Kassel, Neuere und Neueste Geschichte

Literatur

  • Benad, Matthias, „… unter Einsatz aller unserer Kräfte Anwälte unserer Kranken sein.“ Bethel und die nationalsozialistischen Krankenmorde – ein Überblick über den Stand der Forschung, Bielefeld 2015. URL
  • Klee, Ernst, Euthanasie im Dritten Reich. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt 2010, S. 267-277.
  • Stockhecke, Kerstin, September 1940: Die „Euthanasie“ und die jüdischen Patienten in den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel, in: Brack, Claudia / Burkardt, Johannes / Günther, Wolfgang / Murken, Jens (Hrsg.), Kirchenarchive mit Zukunft. Festschrift für Bernd Hey zum 65. Geburtstag, Bielefeld, S. 2007, S. 131-142.

Quellen

  • Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel (HAB) Sonderbestand jüdische Patientinnen und Patienten, 3.
Veröffentlicht am

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