Am 18. Oktober 1938 erreichte das Standesamt Bielefeld im Spiegelshof, Kreuzstraße 20, ein Antrag auf Beischreibung jüdischer Zwangsvornamen. Zwei Monate zuvor hatte das NS-Regime ein Gesetz erlassen, das Jüdinnen und Juden verpflichtete, ab dem 1. Januar 1939 einen ergänzenden Vornamen zu führen und ihn dem zuständigen Standesamt und der Meldebehörde anzuzeigen: Männer „Israel”, Frauen „Sara”. Die Zwangsvornamen fanden 1940 auch Eingang in das Bielefelder Adressbuch.
Die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen v. 17. August 1938 regelte: „Juden dürfen nur solche Vornamen beigelegt werden, die in den vom Reichsminister des Innern herausgegebenen Richtlinien über die Führung von Vornamen aufgeführt sind.” Die Listen als jüdisch eingeordneter Vornamen umfassten 185 männliche und 91 weibliche Einträge. Wer als Jude nicht bereits einen solchen trug, war zur Annahme eines Zwangsvornamens verpflichtet. Den Kreis der zur selbständigen Anmeldung Verpflichteten regelten die „Nürnberger Gesetze”, die mit ergänzenden Verordnungen seit September 1935 festlegten, wer laut Regime Jüdin oder Jude war.
Friedrich Cramer (1890-1949) war seit 1931 Leiter des Standesamts. Ein Dienstzeugnis bescheinigte ihm 1926: „[…] ein tüchtiger Beamter, der in allen seinen Tätigkeiten bewiesen hat, daß er gesteigerten Ansprüchen in Bezug auf Gesetzeskenntnis und Anpassungsfähigkeit zu genügen vermag“ – Qualitäten, die im NS-Deutschland gesucht waren. Am 1. Mai 1937 war er der NSDAP beigetreten, nachdem der seit 1933 geltende Aufnahmestopp weitgehend gelockert worden war. Das ihm zugeordnete Personal bestand 1938 aus vier Beamten und fünf Angestellten, davon drei Maschinenschreiberinnen.
Das Standesamt nahm aufgrund der Meldungen und nicht von Amts wegen – gebührenfreie – Beischreibungen im Geburts- oder Heiratsregister vor. Für eine Beischreibung aus Eigeninitiative wäre eine vollständige Kartei der in Bielefeld geborenen oder verheirateten Jüdinnen und Juden nach den Kriterien der „Nürnberger Gesetze” erforderlich gewesen, die „jüdisch“ nicht als Religions-, sondern als „Rasse“-Merkmal definierten. Die so begründete Notwendigkeit einer „Judenkartei“ war in der Stadtverwaltung zwar schon im Juni 1936 erkannt worden, realisiert wurde sie aber nicht. Mit der Pflicht zur Selbstdeklaration des Zwangsvornamens sollte ein Rechercheaufwand für die Ermittlung konvertierter oder religionsloser Jüdinnen und Juden zumindest verringert werden.
Der Großteil der 455 selbständigen Meldungen kam aus dem Reichsgebiet, weitere aus Belgien, den Niederlanden, Frankreich, Großbritannien, Schweden, Italien, der Schweiz, den USA und auch aus Shanghai. Ist das Ausdruck eines kaum zu verstehenden staatsbürgerlich-preußischen Pflichtbewusstseins der Ausgewanderten? Oder ist es doch eher der Versuch, Repressalien gegen im Reich verbliebene Angehörige zu vermeiden?
Im Mai 1939 erreichte das Standesamt eine Lagerpostkarte aus dem KZ Buchenwald. Die verspätete Meldung des dort wegen seiner Homosexualität seit Sommer 1938 inhaftierten Ludwig Meyer (1903-1975) veranlasste den akribischen Standesamtsleiter, beim Lagerkommandeur mit einer Anzeige gegen Meyer wegen Fristüberschreitung zu drohen. Der Kommandeur indes verwies darauf, dass die Gesetzeslage erst im April 1939 im Lager bekannt gemacht worden war. Ludwig Meyer überlebte Buchenwald, Auschwitz und Mauthausen, wo er im Mai 1945 befreit wurde.
Im Oktober 1945 begann das Standesamt, die Beischreibungen wieder auszutragen, war damit sogar einer Anordnung des Regierungspräsidenten von Ende Dezember 1945 voraus. Cramers Handeln in der NS-Zeit wurde bei seiner Entnazifizierung nicht thematisiert.
Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Jochen Rath,
Stadtarchiv und Landesgeschichtliche Bibliothek Bielefeld