Im November 1942 erfuhr der Wehrmachtssoldat Friedrich Brand vor Stalingrad aus einem Brief seiner Schwester, dass er in den Besitz eines Klaviers gekommen war. Das Klavier stand im Salon des Hauses Laerstraße 9 in Bielefeld. Dort hatte sich seit über zehn Jahren der Firmensitz des Wäscheproduzenten „S. Stern & Sohn“ befunden, der von Martha Stern (später Leffmann) geleitet wurde.
Martha, die eine Handelsschule in Berlin besucht hatte, übernahm die Leitung des Familienunternehmens von ihrer seit 1916 verwitweten Mutter Julie Stern. 1923 stellte die Firma den fünfzehnjährigen Friedrich Brand ein, der hier nicht nur seine kaufmännische Ausbildung machte, sondern auch zu einem Freund der Familie wurde.
In den Dreißigerjahren wurde der Betrieb der Firma, die schon seit dem Ersten Weltkrieg immer wieder unter den Wirtschaftskrisen und Inflationen zu leiden hatte, noch schwerer. Die Nationalsozialisten schränkten der jüdischen Familie Stern die Möglichkeiten zum Leben und Wirtschaften immer weiter ein. Die Firma verkleinerte sich und musste Personal entlassen. Friedrich Brand blieb als einer der letzten Angestellten übrig, bevor auch er 1938 „S. Stern & Sohn“ verließ. In diesem Jahr kamen die Geschäfte der Firma durch die nationalsozialistischen Boykotte vollständig zum Erliegen und sie wurde zum Ende des Jahres abgemeldet.
Martha Stern war nun arbeitslos und sollte auch in der Zukunft keine Arbeit mehr finden. Aus Briefen an ihre jüngere Schwester Alice wird deutlich, dass sie sich um Stellen als Haushaltshilfe oder Kindermädchen in England bemühte. Aber auch diese Bemühungen führten nicht zu einer Arbeitsstelle oder der Möglichkeit einer Ausreise aus dem Deutschen Reich. Alice dagegen war schon 1936 mit ihrem Mann, dem Bildhauer Wolfgang Meyer-Michael, nach Palästina ausgewandert und auch Martha dachte immer wieder über eine Auswanderung nach und lernte auch Englisch. In einem Brief an ihren Schwager Wolfgang von 1939 schreibt sie:
„Man vegetiert von einem Tag zum anderen und hat die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, obwohl die Aussichten für ein Fortkommen nicht gerade aussichtsreich sind.“
1940 starb ihr Mutter Julie Stern.
In den Räumen des Hauses in der Laerstraße 9, die seit der Schließung der Firma nicht mehr als Geschäftsräume gebraucht wurden, lebten ab 1939 Mieter. Das Haus fungierte in dieser Zeit als eines der Bielefelder „Judenhäuser“, in denen jüdische Menschen noch leben durften. Einer dieser Mieter war ab dem 1. September 1940 Hugo Leffmann.
Hugo Leffmann, geboren 1874, war 1938 aus Essen nach Bielefeld gezogen und hatte dann seine Arbeitsstelle als Handelsvertreter verloren. Kurze Zeit später heiratete er Martha Stern. Er war schon zuvor mit der Familie Stern bekannt gewesen. Nur ein halbes Jahr später, am 31. Juli 1942 wurde das Ehepaar Leffmann aus Bielefeld nach Theresienstadt deportiert. Im Zusammenhang mit dieser Deportation deklarierte Martha Stern das Klavier im Salon als Eigentum ihres ehemaligen Angestellten Friedrich Brand, der einige Monate später vor Stalingrad davon erfuhr. Denn die Gepäckmenge, die die einzelnen Jüdinnen und Juden mitnehmen durften, war stark begrenzt. Während die Leffmanns in dem zu dieser Zeit stark überfüllten Konzentrationslager leben mussten, konnte Brand noch vor der Einkesselung Stalingrads auf Urlaub nach Bielefeld zurückkommen und das Klavier in Besitz nehmen.
Die Leffmanns konnten nicht in Theresienstadt bleiben, sondern wurden am 15. Mai 1944 nach Auschwitz gebracht und ermordet. Das genaue Datum ihres Todes ist nicht bekannt.
Spur aufgenommen und Recherche
Jonathan Thiessen
Universität Osnabrück