„Ich hab’ keine Angst vor’m Sterben. Das kann heute sein, das kann morgen sein, das kann übermorgen sein. Das kann noch zehn Jahre dauern, dann hab’ ich Glück gehabt, dann kann ich noch vielleicht einiges tun, worauf es mir ankommt.“ (Marie Luise Hartmann, 1979)
Worauf es Marie Luise (genannt „Lieschen“) Hartmann in ihrem Leben ankam waren drei Dinge:
Geprägt wurde ihr Streben nach Gerechtigkeit bereits in der Kindheit. Am 12. September 1907 kam sie in der Oststr. 24 als geborene Leeker auf die Welt. Ihre Mutter war eine soziale und fortschrittliche Frau. Trotz der harten Arbeit ihrer Eltern lebte die Familie in Armut. Ab ihrer Jugend engagierte sich Lieschen unter anderem bei der Sozialistischen Arbeiterjugend (SAJ), bei den Naturfreunden und im Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB).
Mit etwa 20 Jahren arbeitete Lieschen einige Jahre in der Schweiz. Als sie bei einem Besuch in Bielefeld im Mai 1933 erfuhr, dass ihre Schwester wegen Widerstandsarbeit verhaftet wurde, schloss sie sich unverzüglich der bereits illegalen KPD an, um die Lücke, die ihre Schwester hinterließ, zu füllen. Sie wurde Mitglied einer Widerstandsgruppe, war als Kassiererin und Kurierin tätig und beteiligte sich an der nächtlichen Verteilung von Flugblättern.
Aus der politischen Arbeit von Frauen ergaben sich ganz eigene Gefahren: „Man kam ja in Verruf, mit jedem mit dem du dich getroffen hast, und ich hatte viele Treffs in der Stadt, meistens abends, bist du ja per Arm gegangen und sofort war man als Flittchen verschrien“ (Lawan 1977, S. 70), berichtete sie nach dem Krieg.
Bereits am 4. November 1933 wurde die junge Frau gefasst, vor Gericht gestellt und wegen ‚Vorbereitung zum Hochverrat‘ verurteilt. In unterschiedlichen Gefängnissen musste sie zwei Jahre Haft verbüßen. Für sie war das ein Preis, den sie bereit war zu zahlen: „Und wenn ich nur einen einzigen Menschen zum Nachdenken gebracht habe, dann sind meine zwei Jahre Haft nicht umsonst gewesen“ (Becker 1979).
Nach ihrer Entlassung 1935 leistete die Kommunistin weiterhin Widerstand, allerdings ohne den Rückhalt einer Gruppe. Zwei Jahre später heiratete sie Magnus Hartmann, den sie bei der illegalen Arbeit kennengelernt hatte. 1941 brachte Lieschen eine Tochter zur Welt.
Als seit 1942 auf dem Johannisberg Zwangsarbeiterinnen interniert waren, nahmen beide Kontakt zu ihnen auf und versorgten sie mit Kleidung, Essen und menschlicher Wärme.
Als ‚wehrunwürdiger‘ Mann musste Magnus Hartmann nach seiner Verurteilung im Strafbataillons 999 ‚dienen‘. Im Mai 1944 ist er in Russland ‚gefallen‘.
Noch verstörender war für Lieschen allerdings ein anderes Ereignis: Die Hinrichtung von Mitgliedern der Bielefelder Widerstandsgruppe „Dürkopp /Benteler“ im Herbst 1944: „Ich war derart entsetzt, das hat mich Monate beschäftigt, ich konnte das nicht fassen, dass diese Kameraden jetzt hingerichtet werden und nicht mehr sein sollen“ (Becker 1979).
Direkt nach dem Krieg gehörte Lieschen zu den Mitbegründerinnen der Ortgruppe Bielefeld der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Zusammen mit anderen Widerstandskämpferinnen und -kämpfern organisierte sie die ersten Gedenkveranstaltungen am Ehrenfeld für politisch Verfolgte auf dem Sennefriedhof. Lieschen Hartmann fühlte sich den Ermordeten gegenüber verpflichtet politisch aktiv zu bleiben. Bis ins hohe Alter verteilte sie Flugblätter an der Bielefelder Universität und in der Fußgängerzone, sprach in Schulen über „antifaschistische Friedensarbeit“ und nahm an Demonstrationen und Kundgebungen teil.
Ihr war es wichtig, sich über ideologische Gegensätze hinweg politisch zu engagieren. Einen hohen Stellenwert hatte für sie dabei die Nähe zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie wollte, dass die jungen Leute einen Standpunkt und ein Ziel entwickeln und dass sie zum kritischen Denken angeregt werden. In diesen Kontakten fühlte sie sich wohl, denn dort merke sie, dass es vorwärtsgeht.
Im Alter von 89 Jahren ist Marie Luise Hartmann am 2. Januar 1997 in einem Bielefelder Altersheim gestorben.
Spur aufgenommen und Recherche
Ramona Stumpe
Arbeitskreis „Bielefelder Arbeiter*innen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus“
Jürgen Hartmann kommentiert (25. Juli 2024):
Ich finde es richtiger, Marie Luise Hartmanns Widerstand gegen den Nationalsozialismus als kommunistischen Widerstand einzuordnen. Man sollte diesen Kampf der KPD, so ehrenwert er war, nicht auf den Kampf gegen Faschismus, für Frieden und für Frauen reduzieren. Die KPD – auch in Bielefeld – kämpfte bis 1933 massiv gegen die Weimarer Republik. Dazu existierte ein illegaler (militärischer) Apparat – ebenso in Bielefeld.
Soweit ich mich entsinne, ist Marie Luise Hartmann ihrer politischen Überzeugung treu geblieben. Sie war später nicht nur Mitglied der VVN, sondern auch der DKP.
Dazu:
Hartmann, Jürgen, Die ausgebliebene Revolution. Die lippische KPD und der Deutsche Oktober 1923, in: Rosenland 17 (2015), S. 18-42. URL
Hartmann, Jürgen, Zur Geschichte der KPD und zum kommunistischen Widerstand in Lippe (1920-1945), in: Lippische Mitteilungen aus Geschichte und Landeskunde 62 (1993), S. 199-525. URL