Als am 10. November 1938, nach der sogenannten Reichspogromnacht, die Fensterscheiben im Hause des Textilhändlers Feodor Sachs in Werther mutwillig zerstört wurden, war zufällig sein Sohn Julius Sachs zu Besuch. 1909 in Werther geboren, hatte er dort die Volksschule besucht und eine Lehre gemacht, bevor er Werther verließ. Statt in seinem langjährigen Wohnort Wuppertal wurde er in Werther inhaftiert und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Sein Textilwarengroßhandel in Wuppertal, wie auch das väterliche Geschäft in Werther, wurde aufgelöst, die Warenbestände liquidiert.
Nach den schrecklichen Erfahrungen während der Inhaftierung musste sich Julius Sachs bei seiner Rückkehr aus Buchenwald Anfang Dezember 1938 verpflichten, Deutschland innerhalb von acht Wochen zu verlassen. Seine Versuche, mit seiner Ehefrau Ilse Salomon auszureisen scheiterten aber, da ihm die dazu erforderlichen Mittel fehlten. Außerdem musste er sich, gemeinsam mit seinem jüngeren Bruder Artur, um seinen fast erblindeten Vater kümmern, der schließlich 1942 verstarb.
In Anwendung des „Gesetzes zum Ausschluss von Juden aus dem Wirtschaftsleben“ vom Dezember 1938 wurde Julius – ebenso wie sein Bruder Artur – zu Zwangsarbeit verpflichtet, die er in der Fahrradfabrik Karl Goebel (Wörthstraße 11a) in Bielefeld zu leisten hatte. Um dorthin zu gelangen, fuhren sie mit der Kleinbahn. Für deren Benutzung war – wie wir einem Schreiben des Amtsbürgermeisters der Stadt Werther vom 18. September 1941 entnehmen -, eine behördliche Genehmigung erforderlich, die allerdings nur zur Fahrt im Gepäckwagen berechtigte. Sein Bruder Artur berichtet in seinen Lebenserinnerungen:
„Jeden Morgen und Abend fuhren mein Bruder [Julius] und ich mit der Kleinbahn zwischen Werther und Bielefeld zurück. Es war schrecklich! Denn einige Wertheraner waren äußerst fanatisch, immer wieder wurden wir vor der Fahrt angepöbelt. Wir mussten die Fahrt stehend im Gepäckwagen verbringen.“
Über die Bedingungen der Zwangsarbeit bei der Firma Goebel selbst schreibt er:
„Was den Umgang mit uns jüdischen Menschen im Betrieb betraf, so muss ich sagen, dass das Verhältnis zur übrigen Belegschaft durchaus sehr angenehm war, obwohl wir natürlich unseren Stern tragen mussten.“
Am 10. Januar 1939 heirateten Ilse Samuel und Julius Sachs in Münster, am Geburtsort der Braut. Sie wohnten nach der Hochzeit weiter im Hause von Julius‘ Vater in Werther. Im dortigen Krankenhaus kam auch am 10. März 1940 ihre Tochter Rechel (genannt Ruth) auf die Welt. Zur „Hausgemeinschaft“ gehörten ferner Artur Sachs und später dessen Ehefrau Berta Heilbronn bis zu deren Umzug nach Bielefeld im Frühjahr 1941.
Über die folgenden Ereignisse im Leben der jungen Familie gibt es nach aktuellem Stand keine weiteren Dokumente. Wir vermuten daher, dass Julius weiterhin als Zwangsarbeiter in Bielefeld gearbeitet hat. Seine Ehefrau Ilse hat sich um seinen Vater und um ihr Kind gekümmert.
Am 1. März 1943 wurden Ilse, Rechel und Julius Sachs gemeinsam mit der Familie des Cousins Siegmund Sachs von Werther nach Bielefeld transportiert. Von dort aus wurden sie mit einem der Transportzüge nach Auschwitz deportiert. In der Familie Tiede, Nachbarn aus Werther, zu denen Julius freundschaftliche Beziehungen unterhielt, wird berichtet, dass Julius am Abend vor der Deportation noch einmal mit einem Fahrrad aus Bielefeld nach Werther gekommen ist, um sich zu verabschieden.
Ilse und Rechel tauchen in den Häftlingslisten in Auschwitz und Birkenau nicht auf, sie sind also vermutlich gleich nach der Ankunft ermordet worden. Julius hingegen wurde in das Arbeitslager Monowitz überstellt, in dem er wiederum Zwangsarbeit verrichten musste, diesmal aber unter ungleich schwereren Bedingungen als zuvor in Bielefeld. Von Monowitz aus konnte er eine Weile brieflichen Kontakt mit einer Familie in Werther halten. Zwei seiner Briefe, für die Julius als Absender „Arbeits-Lager Monowitz“ angibt, sind erhalten. Aus einem können wir eine kurze Passage zitieren:
„Zunächst herzlichen Dank für das Paket. Ich kann Euch nicht sagen, wie sehr ich mich darauf gefreut habe. Die Brote sind sehr gut angekommen und ich habe es mir für einige Tage eingeteilt, mich satt zu essen. […] Leider höre ich von Ilse und Tochter gar nichts. Ihr könnt Euch denken, wie schrecklich das für mich ist. […] Interessantes kann ich von hier nicht berichten, da ich nichts erlebe außer Kummer und Elend, und davon will ich nichts schreiben.“
Die Spur von Julius Sachs verliert sich in einem der Todesmärsche, in denen kurz vor Kriegsende die Häftlinge gezwungen wurden, von Auschwitz aus zu Fuß in andere Konzentrationslager zu marschieren.
Spur aufgenommen und Recherche
Arbeitskreis „Spuren jüdischen Lebens in Werther“