Eine Grabstätte auf dem Neuen Friedhof in Bethel, inmitten der Gräber befindet sich ein großer Erinnerungsstein. Insgesamt 13 Mädchen und junge Frauen sind hier bestattet, umgekommen bei einem Luftangriff in der Nacht vom 18. auf den 19. September 1940. Zu ihnen gehört die 25-jährige Irmgard Hemme.
Der Krieg, den Deutschland gut ein Jahr zuvor entfacht hatte, erreichte nun die Menschen im eigenen Land. Und die grausamen Auswirkungen bekamen fortan auch die Menschen zu spüren, die in Bethel lebten und betreut wurden – wie Irmgard Hemme. Da halfen auch die Rot-Kreuz-Kennzeichnungen auf den Betheler Häuserdächern nicht, die sie als Krankeneinrichtung kenntlich machten, und auch die Betheler Luftschutzmaßnahmen nutzten nichts, die streng regelten, wie sich im Falle eines Alarms zu verhalten war. Es war der erste Luftangriff, bei dem Bethel getroffen wurde, weitere sollten folgen.
In der Nacht zum 19. September 1940 waren es acht Bomben, die auf Gebäude der v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel fielen. Schamlos nutzte die nationalsozialistische Presse den Luftangriff für ihre Propagandazwecke aus: „Der britische Kindermord von Bethel“ titelte die Tageszeitung „Völkischer Beobachter“. Und das, obwohl die nationalsozialistischen Kranken- und Behindertenmorde, die sogenannte Euthanasie, längst in vollem Gang war. Friedrich von Bodelschwingh durchschaute die Instrumentalisierung des Luftangriffs. Am 28. September 1940 schrieb er mit deutlichen Worten an von Oeynhausen, den Regierungspräsidenten in Minden:
„Soll ich die Tat der Engländer verurteilen und kurz darauf meine Hand reichen zu einem ‚Kindermord‘ in Bethel weit größerem Umfangs?“ (Schmidt 2009, S. 231)
Zur Trauerfeier für die Opfer fanden sich hochrangige Regierungsvertreter ein. Doch Anstaltsleiter v. Bodelschwingh blieb besonnen und ganz Theologe. Er scheute sich nicht, die Schrecken eines Krieges insgesamt anzusprechen, ohne Schuldzuweisung und ohne Vergeltung zu fordern:
„… daß der Krieg in seiner grausamsten Gestalt hineinbrach in diese Stätte des Friedens, das gab wohl jedem einen Stoß bis ins innerste Gemüt hinein.“ (HAB Sammlung B IV 9,2)
Die 1915 geborene Irmgard Hemme litt an Krämpfen und wurde auch als „schwachsinnig“ bezeichnet. Ihr Vater war im September 1914 gefallen. Aufgrund „absoluter Bildungsunfähigkeit“ – so wird es später in ihrer Patientenakte heißen – konnte sie nicht konfirmiert werden. Irmgards Mutter starb im November 1927. Von nun an galt sie als Kriegsvollwaise und lebte bei Verwandten. Im September 1936 gebar sie ein Kind in der Landesfrauenklinik Celle. Diese vom Staat nicht gewollte Mutterschaft führte dazu, dass den Pflegeeltern abgesprochen wurde, sich gut um Irmgard kümmern zu können. Das öffentliche Interesse forderte die dauerhafte Unterbringung in einer Anstalt. Ab Oktober lebte Irmgard in Bethel, zunächst im Haus Mara, wenige Tage später übersiedelte sie nach Klein-Bethel. Im Januar 1937 wurde sie laut Urteilspruch des Amtsgerichts Celle im Betheler Krankenhaus Nebo nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ unfruchtbar gemacht. Bei dem Luftangriff starb Irmgard Hemme unter den Trümmern des Pflegehauses Klein-Bethel. In der Ärztlichen Bescheinigung, die Frau Dr. v. Griesheim im Dezember 1940 ausstellte, hieß es:
„Irmgard Hemme, geb. 14.2.15, erlitt bei dem englischen Fliegerangriff auf Bethel am 19.9.40 schwerste Bombensplitterverletzungen und wurde tot unter den Trümmern hervorgezogen.“
Den Angehörigen der 13 Patientinnen wurden Bilder der Trauerfeier und die Texte der Predigt und der Trauerrede zugeschickt. Zusätzlich zu den Gräbern errichteten die v. Bodelschwinghschen Anstalten einen Erinnerungsstein.
Spur aufgenommen und Recherche
Dr. Marion Hulverscheidt,
Universität Kassel, Neuere und Neueste Geschichte
Kerstin Stockhecke M.A.,
Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel