Im lokalen Gedächtnis genießt die jüdische Unternehmerfamilie Wertheimer bis heute eine hohe Wertschätzung. Mit der Errichtung einer mechanischen Seidenweberei im Bielefelder Stadtteil Jöllenbeck (1889) boten sie den hier ansässigen Webern überdurchschnittlich bezahlte, familiennahe Arbeitsplätze und einen relativ harmonischen Übergang vom heimischen Handwebstuhl in die maschinelle Fabrikarbeit des Industriezeitalters. Die Sorge um das Wohlergehen ihrer Arbeiterfamilien und ihr vielfältiges soziales Engagement waren feste Bestandteile ihrer Unternehmensphilosophie. Im ersten Weltkrieg (1917) stifteten sie einen Fond für Jöllenbecker Bürger zur Linderung von „Kriegsschäden“, aus dem Kriegswitwen, Waisen, notleidende Familien und schwer Erkrankte Unterstützung erhielten.
In der dritten Generation übernahmen Eduard und Paul Wertheimer um 1904 von ihren Eltern Joseph und Jenny die florierende Seidenweberei. Sie positionierten das Unternehmen nach C.A. Delius & Söhne auf Platz zwei der Bielefelder Seidenstoffproduzenten. Ein Jahresgewinn von rund 800.000 RM mit rund 600 Beschäftigten – in den Jahren um 1930 – belegten auch zahlenmäßig den Erfolg auf dem Markt modischer Seidenstoffe im oberen Preisniveau.
Paul Wertheimer, ein Kaufmann mit europaweiten Kontakten und feinem Gespür für Modetrends, Märkte und politische Entwicklungen, war bereits Anfang 1933 besorgt über den Fortbestand seines Unternehmens und das Überleben seiner Familie. Er hatte sich nach Erinnerung seiner Kinder bereits damals ein Datum für seine Auswanderung gesetzt: die Berliner Olympiade im August 1936.
Im Herbst 1935 gerieten die Gebrüder Wertheimer unerwartet unter massiven Verfolgungsdruck der westfälischen Finanzbehörden. In einer dramatischen Polizeiaktion wurden ihnen die Pässe abgenommen, Geschäftsräume und Privatwohnungen durchsucht und Hausverbote erteilt für alle Geschäftsräume in Bielefeld und Jöllenbeck. Zur Leitung des Unternehmens wurde von Berliner Regierungsinstanzen ein Treuhänder eingesetzt. Damit endete für die Wertheimer das eigenverantwortliches Unternehmertum. Ein monatelanges, aufreibendes Ermittlungsverfahren der Finanz- und Zollbehörden (Finanzamt Bielefeld, Zollfahndung Dortmund, Devisenstelle Münster) konnte den in einer anonymen Anzeige erhobenen Vorwurf, sie hätten über ihr deutsch-schweizerisches Tochterunternehmen, die Weberei SAWECO in Lörrach, Betriebserlöse in der Schweiz „verschoben“, nicht beweisen.
Im weiterhin offen schwebenden Verfahren entschlossen sich die Wertheimer – inzwischen hoffnungslos und gesundheitlich am Ende ihrer Kräfte – für einen „Befreiungsakt“: Sie sicherten der Devisenstelle Münster den Verkauf ihres Unternehmens zu und zahlten darüber hinaus 40.000 RM an die Berliner Golddiskontbank zur „Bereinigung der strittigen devisenrechtlichen Geschäfte“. Für Paul Wertheimer öffnete sich damit (im August 1936) der Weg zur ungehinderten Auswanderung nach England.
Der kurzfristige Verkauf des Unternehmens gestaltete sich unerwartet schwierig. Wegen akuter Verwerfungen auf den Textilmärkten fand sich kein Interessent aus der Textilbranche. Am 29. Juli 1936 (zwei Tage vor der Berliner Olympiade) verkauften die Wertheimer schließlich unter Handlungsdruck ihr Unternehmen an den Margarine-Konzern UNILEVER, der zu jener Zeit auf Einkaufstour in Deutschland unterwegs war. Die Wertheimer akzeptierten notgedrungen einen Verkaufspreis, der weit unter dem Einheitswert ihres Unternehmens lag. Der Marktwert (Goodwill), das reich gefüllte Fertigwarenlager und die Produktionsanlagen blieben dabei unberücksichtigt. Unter der Firmenbezeichnung „Ravensberger Seidenweberei GmbH“ (RSW) wurde die Weberei in neuer Eigentümerschaft gewinnbringend fortgesetzt.
Paul Wertheimer verlor darüber hinaus bei seiner Auswanderung nach England durch „legale“ fiskalische Beraubung den größten Teil seines ohnehin geringen Verkaufserlöses. Die Instrumente dieser staatlich organisierten Beraubung waren Reichsfluchtsteuer, DEGO-Abgabe an die Gold- und Devisenbank und Verbuchung des Vermögens in „Auswanderersperrmark“, die auf den Kapitalmärkten nicht frei konvertierbar war.
Eduard Wertheimer hatte zu keinem Zeitpunkt eine Auswanderung in Erwägung gezogen. Er liebte sein Vaterland und hatte sich dafür entschieden, in Deutschland auszuharren um seine Verwandten und notleidende Juden in „angenehmer Pflichterfüllung“ finanziell zu unterstützen. Er schied am 20. Juli 1942 durch Suizid aus dem Leben, nachdem ihm bekannt geworden war, dass sein Name auf der Bielefelder Deportationsliste vom 31. Juli 1942 (Theresienstadt) verzeichnet war. Ein Stolperstein vor seiner Wohnung Regerstraße 4 erinnert seit dem 1. Oktober 2016 an sein Leben und Wirken.
Spur aufgenommen und Recherche
Friedhelm Wittenberg
Erinnerungszeit.de