Die v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel entwickelten sich in den 1920er-Jahren in Westfalen zu einem wesentlichen Teil des Versorgungswesens von Männern, Frauen und Kindern mit Epilepsie – mit und ohne Behinderungen – sowie Erwachsenen mit psychischen Erkrankungen. Sie bestanden als diakonische Komplexeinrichtung aus verschiedenen Stiftungen (Bethel, Sarepta und Nazareth) und Anstaltsteilen (Eckardtsheim in der Senne, Freistatt bei Diepholz). Neben der Versorgung von Menschen mit Epilepsie, für die die Anstalt Bethel 1867 gegründet worden war und europaweit Bekanntheit erreicht hatte, wurden nach und nach Wanderarbeiter, Psychiatriepatientinnen und -patienten sowie Fürsorgezöglinge aufgenommen. Um 1930 galten die v. Bodelschwinghschen Anstalten, meist kurz „Bethel“ genannt, als größte deutsche Privatanstalt mit rund 5.000 Plätzen und rund 80 Pflegehäusern in den Ortschaften Bethel und Eckardtsheim, zu denen auch zahlreiche Handwerksbetriebe, Hausgärten und große Ländereien gehörten.
Die Pflege in der evangelischen Anstalt erfolgte durch religiös geprägtes Personal, den Diakonissen der Westfälischen Diakonissenanstalt Sarepta (gegründet 1869) und den Diakonen der Westfälischen Diakonenanstalt Nazareth (gegründet 1877). Der Alltag der Patienten war von christlichen Feier- und Festritualen, von gemeinsamen Andachten und Gottesdiensten geprägt. Arbeit galt in Bethel als traditionelle Form des Umgangs mit den Patienten, sei es, um psychiatrisch Kranke und Menschen mit Epilepsie sinngebend zu beschäftigen, von ihren Symptomen abzulenken oder sie wirtschaftlich einzusetzen.
Seit Beginn der 1920er-Jahre lässt sich die Entwicklung Bethels mit Prozessen der Professionalisierung und der Medizinalisierung des Anstaltsbetriebs beschreiben. In den beiden religiösen Gemeinschaften Sarepta und Nazareth schlug sich dieses durch die Ausdifferenzierung des Ausbildungswesens nieder. Zunehmend kamen Spezialisierungen hinzu, sei es in der Labortechnik oder bei der Pflege von psychisch Kranken. Im Bereich der Medizin stieg die Anzahl und die Bedeutung der Ärzte im Anstaltsgefüge neben den Theologen. Der Bedeutungszuwachs der Medizin spiegelte sich auch in der Gründung der Aufnahmestation und Epilepsieklinik Mara (1933 eröffnet) wie in der universitären Herkunft der leitenden Ärzte, die alle wissenschaftlich orientierte Psychiater waren: Carl Schneider (von 1930-1933 in Bethel), Werner Villinger (von 1934-1939) und Gerhard Schorsch (von 1940 bis 1967) sowie auf Seiten der Psychiatrischen und Nervenabteilung von Sarepta, Karsten Jaspersen (von 1928-1960).
Am 1. Januar 1934 trat das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ in Kraft. Insgesamt sind von 1934 bis 1945 etwa 360.000 Opfer des Zwangssterilisationsgesetzes im Deutschland der Grenzen bis 1937 zu schätzen und rund 400.000 Menschen einschließlich der angegliederten und besetzten Gebiete.
In fast allen politischen Lagern, in der Wissenschaft und in der Wohlfahrtspflege gewann das Thema der Eugenik als Sozialutopie wie als Gesellschaftspolitik bereits seit den 1920er-Jahren zunehmend Raum. Befördert wurde dies besonders durch die Wohlfahrtsstaatskrise ab 1930. Diese zog eine Krise des Weimarer Wohlfahrtsstaates nach sich, in der sich eugenische Positionen verschärften.
Die Befürwortung der Sterilisation als fürsorgerische und eugenische Maßnahme lässt sich für die v. Bodelschwinghschen Anstalten sowohl hinsichtlich theologischer als auch ärztlicher Vertreter aufzeigen. Bereits 2013 betonte der Historiker Hans-Walter Schmuhl, dass sich die v. Bodelschwinghschen Anstalten zu einem „Schrittmacher des Sterilisierungsprogramms“ entwickelten.
Schon im Vorfeld des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, zwischen November 1933 und Frühjahr 1934, führte der Chirurg des Krankenhauses Gilead, Richard Wilmanns, Sterilisationen durch. Diese rechtfertigte er sowohl mit medizinischen als auch eugenischen Begründungen, aber ohne vorherigen Beschluss einesErbgesundheitsgerichts.
Als Wegbahner für die Eugenik kann man den Betheler Anstaltsleiter Friedrich von Bodelschwingh d.J. (1877-1946) sehen. Er hatte 1929 in einem Vortrag in Lübeck die Erwägung der Eugenik bei gleichzeitiger Ablehnung der „Euthanasie“ diskutiert. Auch bei der ersten Konferenz des „Fachausschußes für Eugenik“, den der „Centralausschuß für Innere Mission“ im Mai 1931 in Treysa einberufen hatte, öffnete er durch seine Anwesenheit und Befürwortung der Eugenik, dem Thema in der ansonsten konservativ skeptischen damaligen Inneren Mission (Vorläufer der Diakonie) die Tore. Der „Fachausschuß für Eugenik“ war vom „Centralausschuß der Inneren Mission“ eingesetzt worden, um stellvertretend für die Evangelische Kirche und die Innere Mission über die Themen Eugenik, Sterilisation, Schwangerschaftsabbruch und „Euthanasie“ eine Position zu formulieren. Dort waren Vertreter aus verschiedenen Fachrichtungen wie Medizin, Theologie, Fürsorge und Rechtswissenschaft versammelt, die bis 1938 regelmäßig tagten.
Die Einrichtungen der Inneren Mission hatten sich 1931 für die freiwillige Sterilisation ausgesprochen und konnten sich mit dem im nationalsozialistischen „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ festgelegten Zwang wenig anfreunden. Die Reichsregierung beschloss das Gesetz im Juli 1933. Entgegen den Debatten zuvor sah das Gesetz ausdrücklich einen Zwang zur Sterilisation für Menschen mit vermeintlichen Erbkrankheiten oder schwerem Alkoholismus vor. Dennoch sahen Anstaltsleiter, Ärzte und Funktionäre der Inneren Mission keine Veranlassung zum Widerspruch gegen die neue Rechtslage, da sie sich als staatsloyal verstanden und vom Nationalsozialismus eine nationale Wiedererstarkung erhofften.
Für die Ärzte in Bethel stand die reibungslose Durchführung des Verfahrens im Mittelpunkt: von der Anzeige an den Amtsarzt über die Antragstellung durch das Gesundheitsamt sowie das anschließende Verfahren vor dem Erbgesundheitsgericht bis zur Durchführung der Sterilisation in einem der Krankenhäuser Bethels.
Die Chefärzte der beiden als Heil- und Pflegeanstalten geltenden Anstaltsteile Bethel, Werner Villinger – Mitglied in der NSDAP seit 1. Mai 1937 – und Sarepta, Karsten Jaspersen – Mitglied in der NSDAP seit 1. Mai 1931 – erhielten selbst das Antragsrecht für die Sterilisationsverfahren an das Gesundheitsamt. Die theologische Anstaltsleitung war mit diesem administrativen Verfahren nicht befasst. Das war das übliche Verfahren in vielen Einrichtungen der Inneren Mission.
Mehrere Ärzte aus den v. Bodelschwinghschen Anstalten Bethel waren ärztliche Beisitzer am Erbgesundheitsgericht, allen voran Karsten Jaspersen, der bis zu seinem Ausscheiden aus dem Bielefelder Erbgesundheitsgericht 1941 an mehreren hundert Sterilisationsverhandlungen teilnahm. Das Erbgesundheitsgericht tagte teilweise auch direkt in den Räumlichkeiten der v. Bodelschwinghschen Anstalten. In der Regel wurden Fälle von Patienten und Patientinnen in Heil- und Pflegeanstalten sehr kurz, oftmals nur 10 bis 15 Minuten verhandelt. Überwiegend fiel die Entscheidung anhand der zuvor eingeholten Gutachten.
Auf Antrag der Vorstände der Anstalten Bethel, Sarepta und Nazareth vom 24. Oktober 1933, wurden vom Reichs- und Preußischen Minister des Innern per Runderlass vom 13. März 1934 die beiden Krankenhäuser Gilead – als öffentliches Krankenhaus – und Nebo – als nichtöffentliches zur Anstalt Bethel zählendes Krankenhaus – auf die Liste derjenigen Krankenhäuser aufgenommen, die Sterilisationen ausführen durften. Als Begründung Bethels wurde pragmatisch angegeben: Da eine große Anzahl von Sterilisationen zu erwarten sei, würden durch die Ausführung in der Anstalt Transportkosten und Unruhe unter den Patienten und Patientinnen vermieden. Die Erlaubnis zur Sterilisation war nicht nur an eine Einrichtung, sondern auch an die fachliche Kompetenz des Arztes sowie die technischen Möglichkeiten eines Krankenhauses gebunden. Für Gilead und Nebo erhielten die Erlaubnis zu operativen Sterilisationseingriffen Richard Wilmanns und sein Oberarzt Herbert Korte (bis 1937 in Bethel). Der Chirurg Richard Wilmanns selbst, als Leitender Arzt Gileads bei der Anstalt Sarepta angestellt, hatte sich eilfertig im Oktober 1933 bereiterklärt, Sterilisationsoperationen auch in der Anstalt Bethel durchzuführen. Wilmanns erhielt zudem im Rahmen des Runderlasses des Reichs- und Preußischen Minister des Innern vom 1. Juli 1936 die Erlaubnis zur Röntgensterilisation, eine Methode, die im Rahmen des Zweiten Änderungsgesetzes zum GzVeN vom 4. Februar 1936 legalisiert worden war und nur bei Frauen im Alter von über 38 Jahren angewandt werden sollte, wenn ein chirurgischer Eingriff aus gesundheitlichen Gründen zu riskant erschien.
Dauerhaft anstaltspflegebedürftige Menschen mit Behinderungen sollten dann sterilisiert werden, wenn sie Urlaub oder auch nur vorübergehende Entlassungen gewährt erhalten wollten. Ansonsten galten Patienten und Patientinnen in einer „geschlossenen“ Anstalt mit geschlechtergetrennter Unterbringung als ausreichend beaufsichtigt, so dass kein „erbkranker Nachwuchs“ zu befürchten war. Deswegen liegen allgemein die Sterilisationsquoten in Pflegeeinrichtungen niedriger als in rein psychiatrischen Häusern, wo Menschen oft nach kürzeren Behandlung wieder entlassen wurden.
Die Anzahl der anhand der Quellen nachweisbaren Sterilisationen in Bethel wurde nach der Errichtung eines Mahnmals auf dem Anstaltsgelände vom Hauptarchiv Bethel bis zur Gegenwart immer weiter ergänzt. Auf dem 2001 eröffneten Mahnmal findet sich gemäß dem damaligen Kenntnisstand die Zahl von 1.176 Sterilisationen. In den Folgejahren legte das Hauptarchiv Bethel eine Datenbank an, die sich aus weiteren Quellen speist. So wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts über das Krankenhaus Gilead (2013) die Operationsbücher ausgewertet. Später wurden in Sachakten und Einzelfallakten recherchierte Einzelfälle in der Datenbank ergänzt. Auch die Zwangssterilisationen, die bei der Auswertung von rund 2.000 Patientenakten im Rahmen eines Forschungsprojekts der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Thema: Alltag in Bethel 1924 bis 1949) erfasst wurden, flossen in die Datenbank ein. Stand Januar 2023 umfasst die Datenbank 1.665 Fälle, aus denen nachfolgende statistische Aussagen gewonnen wurden.
Anstaltsteile | männlich | weiblich | Gesamt | v.H. |
Bethel | 431 | 271 | 702 | 42,2 |
Eckardsheim | 294 | 2 | 296 | 17,8 |
Freistatt | 83 | 0 | 83 | 5,0 |
Hermannsheide | 4 | 0 | 4 | 0,2 |
Sarepta | 1 | 128 | 129 | 7,7 |
Extern | 129 | 320 | 449 | 27,0 |
NN | 2 | 0 | 2 | 0,1 |
Gesamt | 944 | 721 | 1665 | 100,0 |
Von den insgesamt 1.665 erfassten Sterilisationen in Betheler Krankenhäusern stammten aus den Einrichtungen der v. Bodelschwinghschen Anstalten (Bethel, Eckardtsheim, Hermannsheide, Freistatt und Sarepta) insgesamt 1.214 Opfer. Von diesen sind wiederum 1.085 Personen den Einrichtungen der Anstalt Bethel zuzuordnen und 129 der Anstalt Sarepta. Es ist davon auszugehen, dass damit rund 90 Prozent der betroffenen Patienten und Patientinnen aus der Anstalt Bethel (ohne Zweiganstalt Freistatt) und der Anstalt Sarepta erfasst sind. Aus vor allem umliegenden Städten und Gemeinden kamen insgesamt 449 Menschen, die meist eigens für die Durchführung der Sterilisation in eines der Betheler Krankenhäuser aufgenommen wurden. Weitere Forschungen hierzu stehen noch aus. Zwei Fälle konnten (bislang) nicht verortet werden.
An den Amtsarzt beziehungsweise das Erbgesundheitsgericht sind laut einer 1953 erstellten Dissertation zwischen 1934 und 1945 insgesamt 3.660 Anzeigen für Patienten und Patientinnen aus der Anstalt Bethel gestellt worden. Der Anteil der sterilisierten Betroffenen von rund einem Drittel der insgesamt angezeigten Fälle liegt ungefähr im Rahmen anderer Einrichtungen, die Menschen mit Epilepsie oder geistigen Behinderungen betreuten.
Gestorben an der Zwangssterilisation sind insgesamt fünf Frauen und ein Mann. Eine der betroffenen Frauen hatte nach ihrer Rückkehr nach Hause Suizid begangen; bei einer dieser Frauen war gleichzeitig ein Schwangerschaftsabbruch erfolgt. Röntgensterilisationen sind bislang in zwei Fällen bei Frauen nachweisbar.
Blickt man auf die Diagnose der sterilisierten Menschen, so findet sich diese nur teilweise und häufig in Mehrfachangaben in den Quellen. Die statistische Auswertung kann sich daher nur auf den größten Teil der Patienten und Patientinnen aus Häusern der Anstalt Bethel beziehen, ohne externe Fälle und ohne die Frauenpsychiatrie der Anstalt Sarepta (N=1049). Demnach fand sich bei fast der Hälfte aller Betroffenen die Diagnose Epilepsie und bei rund 35 Prozent „angeborener Schwachsinn“. Mit gut 15 Prozent war Schizophrenie die nächstgrößte Kategorie der Diagnosen, der die Sterilisationsopfer in Bethel unterlagen.
Sieht man auf die Jahre, in denen die erzwungenen operativen Eingriffe an Menschen in Betheler Krankenhäusern stattfanden (N=1665), so zeigt sich, dass sich in den Anfangsjahren 1934 bis Ende 1937 insgesamt 77 Prozent aller Sterilisationsfälle ereigneten (höchster Anteil 1935 mit 24,0 Prozent). Dies folgte dem auch andernorts festzustellenden Schema, wonach es in der Anfangsphase sozusagen zu einer Durchmusterung des Bestandes der Patienten und Patientinnen und damit eine hohe Zahl von Anzeigenstellungen gab, dann eine Etablierung der Sterilisation im Anstaltsalltag einsetzte und schließlich ab 1937/1938 sich nur noch Neuaufnahmen mit einer Anzeige konfrontiert sahen. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs sah eine Durchführungsverordnung zum Sterilisations- und Ehegesundheitsgesetz am 31. August 1939 eine Einschränkung der Sterilisation auf „dringliche“ Fälle von „besonders großer Fortpflanzungsgefahr“ vor. Die Erbgesundheitsgerichte funktionierten weiter bis zum Kriegsende und nur die Beschwerdeinstanz der Erbgesundheitsobergerichte wurde im November 1944 aufgehoben. Auch in Bethel sanken in der Kriegszeit die Sterilisationszahlen stark ab (von Gesamt 1939: 5,9 Prozent; 1941: 2,0 Prozent; 1944: 0,8 Prozent).
Sieht man die hohe Zahl von Sterilisationen an Bewohnern aus den Häusern der Anstalt Bethel und Sarepta, die über die Marke von 1.000 reicht, so erklärt und relativiert sich dies angesichts der Größe der Einrichtung, was allerdings keineswegs auf ein geringeres erbbiologisches Engagement verweist.
In den v. Bodelschwinghschen Anstalten ist die Ermittlung des genauen Anteils der sterilisierten Menschen an der Zahl der insgesamt Betreuten dadurch erschwert, dass für den Anstaltsteil Eckardtsheim für die Jahre 1934, 1939 bis 1942 und 1944 keine Bestandszahlen oder Zugangszahlen vorliegen. Um dennoch eine Einordnung vornehmen zu können, wurden für Eckardtsheim Zahlen anhand des folgenden Jahres geschätzt, mit vorhandenen Zahlen von Bethel und Sarepta kombiniert und der errechnete Anteil der Sterilisierten mit denen ähnlicher oder gleichartigen Einrichtungen verglichen.
Einrichtung | Sterilisationsquote 1934-1936 |
Bad Kreuznach | 6,2 |
Tannenhof | 9,5 |
Kaiserswerth | 17,6 |
Gütersloh | 9,6 |
v. Bodelschwinghschen Anstalten (Epilepsie, “Geisteskranke- und Schwache”, Psychiatrie) | 10,9 |
In Bethel lag die Sterilisationsquote bis Ende 1936 demnach höher als in der Diakonie Bad Kreuznach, die als Einrichtung für Menschen mit Behinderungen galt, und auch höher als in der als Heil- und Pflegeanstalt in die regelhafte Psychiatrieversorgung eingebundenen Evangelischen Stiftung Tannenhof in Remscheid-Lüttringhausen oder auch in der Provinzialheilanstalt Gütersloh. In der kleinen, aber nur auf Frauen mit psychiatrischen Erkrankungen spezialisierten Nervenklinik der Diakonissenanstalt Kaiserswerth lag die Quote dagegen wesentlich höher.
An dem zu den v. Bodelschwinghschen Anstalten gehörenden Krankenhaus Gilead fanden bereits vor dem Inkrafttreten des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ Sterilisationen statt, sowie Sterilisationen, bevor das Erbgesundheitsgericht in Bielefeld am 6. Februar 1934 zum ersten Mal tagte. Diese zwischen Herbst 1933 und Anfang Februar 1934 feststellbaren Sterilisationen zeigen die Verschiebung einer möglichen medizinischen zu einer eugenischen Indikation. Die Bereitschaft dazu war bei Richard Wilmanns, dem langjährigen leitenden Chirurgen des zu Sarepta gehörenden Krankenhauses Gilead, gegeben. Er verknüpfte medizinische Erwägungen für eine operative Behandlung mit eugenischen Begründungen und befand sich damit in einem Graubereich der eigenen Entscheidungsmacht, die nicht durch einen gerichtlichen Beschluss gedeckt war.
Zwischen November und Dezember 1933 wurden bereits eine Frau aus Bielefeld und drei männliche Patienten der Anstalt Bethel sterilisiert. Bei dem ersten Eingriff im November wurde bei der Frau zugleich ein Schwangerschaftsabbruch vorgenommen. Nach Rechtslage bis Jahresende 1933 hätten diese Sterilisationen strenggenommen als vorsätzliche Körperverletzung gelten müssen; der Schwangerschaftsabbruch war illegal, da der § 218 StGB erst im Sommer 1935 eine Änderung des bis dahin geltenden Abtreibungsverbots vorsah. Bevor das Erbgesundheitsgericht in Bielefeld zum ersten Mal tagte, war Anfang Februar eine weitere Patientin aus der Anstalt Bethel sterilisiert worden.
In Bethel waren die Verantwortlichen auf der theologischen wie ärztlichen Seite im Prinzip gegen die Durchführung von Abtreibungen und gegen die eugenische Indikation, die vom NS-Regime mit Gesetzgebung am 26. Juni 1935 eingeführt wurde und einen Schwangerschaftsabbruch bis zum sechsten Schwangerschaftsmonat legalisierte. In der medizinischen Praxis kam es in Bethel hingegen sehr wohl zu Schwangerschaftsabbrüchen zusammen mit Zwangssterilisationen. Neben dem oben bereits geschilderten Fall, sind zwischen Oktober 1935 und Mai 1938 insgesamt elf eugenische Eingriffe im Zusammenhang mit Schwangerschaftsunterbrechung zu vermerken, danach ein weiterer Fall im Jahr 1945.
Die gesamte Sterilisierungspraxis zeigt, wie tief die Eugenik in die medizinische Praxis jener Jahre in Bethel eingelassen war. Das unterstreichen vor allem die Sterilisationen noch vor Inkrafttreten des Gesetzes und das Einlassen auf Schwangerschaftsabbrüche. Damit war man sogar bereit, über die Empfehlungen des „Centralausschußes für Innere Mission“ hinauszugehen und „sich zur willigen Vollstreckerin der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik“ (Schmuhl 2013, S. 328) zu machen.
Das Erleben der Betroffenen, das sich zeitgenössisch nur selten in den Patientenakten nachzeichnen lässt, aber später in Interviews deutlich wurde, zeigt das Erschütternde dieser Verstümmelungspolitik. Ein anschauliches Beispiel bietet die Künstlerin Dorothea Buck (1917-2019), die zeitlebens ihr Schicksal öffentlich gemacht und für die Anerkennung der Opfer gekämpft hat.
Sie berichtet rückblickend über ihre Sterilisation:
„Als ich mit gerade 19 Jahren selbst [11 Wochen] Patientin der geschlossenen ‚Unruhigen Station‘ von ‚Haus Magdala‘ in Bethel war, einem ‚Haus für Nerven- und Gemütsleiden‘, wie es damals hieß, erlebte ich Bethel ganz anders als wir es im ‚Boten von Bethel‘ gelesen hatten. Dieses Bethel löste so tiefe Ängste in mir aus, wie ich sie nie zuvor und seither erlebte. Am meisten ängstigte mich, dass niemand mit uns sprach. In meiner neunmonatigen Zeit in diesem Haus erlebte ich nicht ein einziges Gespräch der Ärzte und Hauspfarrer mit mir. Der Chefarzt kam jeden Morgen mit den Assistenzärzten und der Hausmutter. Er gab uns die Hand und sagte ‚Guten Morgen‘, aber er sprach nicht mit uns. Als Schüler von Emil Kraepelin beobachtete er nur unsere Symptome. Auch miteinander sollten wir Patientinnen dieser Station nicht sprechen. Unsere beiden Hauspfarrer sprachen ebenfalls nicht mit uns. Sie gingen von Bett zu Bett, ergriffen die Hand der darin liegenden Patientin und sprachen einen Bibelvers, ohne ein persönliches Wort an uns zu richten. Tiefer kann ein Mensch nicht entwertet werden, als ihn keines Gespräches für wert oder fähig zu halten.” (Buck 2001, S. 13)
Das Haus Magdala, über das Dorothea Buck berichtete, gehörte zu der Psychiatrischen und Nervenabteilung der Anstalt Sarepta innerhalb der v. Bodelschwinghschen Anstalten.
Dass Dorothea Buck davon berichtete, es habe kein Gespräch zwischen Patienten und Ärzten stattgefunden, lässt sich als verdichtete, nachträgliche Beschreibung einer als ohnmächtig erlebten Situation begreifen. Diese beschriebene Ohnmacht gegenüber der erlebten Situation, dass man als Patientin als „minderwertig“ aus der „Volksgemeinschaft“ ausgesondert wurde, ist ein charakteristisches Element des Erlebens von Sterilisationsopfern. Sie waren der ärztlichen Gutachtermacht ausgeliefert. Psychische Erkrankung, Epilepsieerkrankung oder geistige Behinderung führten zu einer Bedrohung durch die verstümmelnde Sterilisationsoperation. Insbesondere Frauen empfanden die Operation als Negierung der ihnen sozial zugeschriebenen Rolle als Mutter und langfristig auch als Ehefrau oder Partnerin, denn seit 1935 war die Eheschließung zwischen „Erbkranken“ und vermeintlich „Erbgesunden“ verboten. Der physischen und psychischen Verstümmelung folgte die soziale Deklassierung.
Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurden in zwei Studien Interviews mit Betroffenen geführt, aus denen sich Erkenntnisse über das Erlebte gewinnen lassen. Eine Betroffene berichtete zum Beispiel vom „Hitlerschnitt“, der ihr als notwendig für den regelmäßigen Besuch „zuhause“ von den Ärzten dargestellt wurde:
„Ja, da habe ich getobt. Ich wußte das, daß die das bei mir machen wollten. Da sagte der Arzt, ich müßte operiert werden, sonst dürfte ich nicht nach Hause fahren. ‘Warum’, sag ich, ‘ich bin doch nicht krank. Ich habe doch keine Schmerzen. Nee.’ Da mußte ich den andern Tag […] wurde ich fertiggemacht […] mußte nach Nebo, sollte operiert werden. Ich habe mich gewehrt, oh ich hab’ mich gewehrt, geschimpft! Für verrückt gehalten. Ich weiß nicht, wie ich nach Nebo gekommen bin, ich hab’ ‘ne Spritze gekriegt, weil ich mich gewehrt hab’, und wie. Und geschimpft hab’ ich, meine Güte. Die Schwestern sagten ‘n paar Tage später. ‘Was hast Du geschimpft und getobt, das kennt man gar nicht.‘ […] Das können ‘se gar nicht wieder gutmachen, das ist frech. Unverantwortlich, da nicht einen aufzuklären, warum dürften wir nicht nach Hause fahren. Quatsch, wir sind doch oft nach Hause gefahren, vorher, auf einmal, das ging aber alles von Hitler aus, war Befehl.“ (Hentig/Hardmeier 1994, S. 79)
Die Autorinnen dieser Studie, Gudrun Hentig und Ursula Hartmeier, und auch Irene Heiselbetz in einer weiteren auf Interviews basierenden Studie (1992), zeichnen noch rund 50 Jahre später die tiefe Betroffenheit durch die Zwangssterilisation auf, die ihnen jedoch von keinem Mann berichtet wurde.
„Die Unsicherheit der Frauen, was da mit ihnen geschah, war groß. Richtig darauf vorbereitet im Gespräch wurde wohl kaum eine, man kam eben ins Krankenhaus wie andere auch. Eine Klientin berichtete, wie man sie unter Druck gesetzt hat, sich dieser Operation zu unterziehen. Dieser Druck war für sie eine schwere moralische Diskriminierung, die sie heute noch tief beleidigt.“ (ebd. S. 33)
Dr. Uwe Kaminsky (2023)
Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin (Charité Berlin)
Kerstin Stockhecke (2023)
Hauptarchiv der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel