Die wechselvolle Geschichte des Hauses Laerstr. 9: Wäschefabrik – Wohnhaus – Sitz der RVJD – „Judenhaus“ – Wohnhaus und Textilgroßhandlung

Bild des Hauses Laerstr. 9, 2023. Bildrechte: Christiane Wauschkuhn.
Bild des Hauses Laerstr. 9, 2023. Bildrechte: Christiane Wauschkuhn.
Haus an der Laerstraße 9, 1945. Seit 1939 Bezirksstelle der Reichsvereinigung der deutschen Juden (RVJD)
Haus an der Laerstraße 9, 1945. Seit 1939 Bezirksstelle der Reichsvereinigung der deutschen Juden (RVJD). Gedruckt: Vogelsang, Reinhard u.a. (Hrsg.), Im Zeichen des Hakenkreuzes. Bielefeld 1933-1945, Bielefeld 1986 (3. Auflage), S. 125
30. April 1939
Laerstraße 9, 33615 Bielefeld

Der jüdische Unternehmer Gustav Stern (1859 – 1916) errichtete das Haus 1902 als Produktionsstätte seiner Wäschefabrik S. Stern & Sohn. Nach seinem Tod übernahm seine Ehefrau Julie, geborene Sondermann (1874 – 1940) die Geschäfte. Nachdem Russland infolge des Ersten Weltkriegs als Absatzmarkt weggefallen war, tat die Inflation 1923 ein Übriges: Der Absatz sank und die Wäschefabrik lohnte sich immer weniger. Die Tochter Martha Stern (1899 – 1942, ab 1941 Leffmann), die eine kaufmännische Ausbildung in Berlin gemacht hatte, versuchte das Unternehmen konkurrenzfähig zu halten. Sie verbreiterte das Sortiment: Neben Hemden-Einsätzen wurden nun auch Taschentücher, Kinderlätzchen und Kragengarnituren sowie Wäsche für Damen hergestellt. Letztlich erwiesen sich jedoch alle Bemühungen als erfolglos und das Haus wurde zu groß für die verbleibenden Aktivitäten der Wäschefabrik.

1932 wurde das Haus umgebaut und das Lager, die Näherei sowie die Plätterei der Wäschefabrik ins Erdgeschoss verlegt. In die 1. Etage zog Julie Stern mit ihrer Tochter Martha. So sparte sie die Miete für ihre ehemalige Wohnung in der Hammerschmidtstraße. Außerdem konnten weitere Räume an jüdische und nicht-jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger vermietet werden. Damit finanzierte Julie Stern ihren Lebensunterhalt und die Kosten für den Umbau des Hauses. Spätestens 1938 wurde die Wäschefabrik ganz aufgegeben – sicherlich auch wegen der zunehmenden Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.

Das Gebäude als „Judenhaus“ und Sitz der RVJD

1939 übernahm die Bezirksstelle der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland (RVJD) einen Teil des Hauses als Geschäftsräume. Zeitgleich wurden ab 1939 jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger zwangsweise einquartiert und das Haus somit zu einem sogenannten Judenhaus – Grundlage war das “Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden” (RGBl. I, S. 864) vom 30. April 1939. Zu diesem Zweck dienten die Wohnräume in der 1. Etage (Bad, Küche, Diele und fünf Zimmer) und zwei Kammern im Dachgeschoss. Um die Wohnverhältnisse erträglicher zu machen, beantragte Martha Leffmann, geborene Stern, noch am 14. Februar 1941 den Ausbau des Dachgeschosses für 1.200 Reichsmark. Als Zweck wurde angegeben: Schaffung von Wohnraum für Juden. Der Antrag wurde aber bereits fünf Tage später abgelehnt. Mit der Nutzung als  „Judenhaus“ verschlechterten sich nach und nach die Wohnverhältnisse: Lebten zwischen 1939 bis 1941 sechs bis sieben Personen in der Wohnung, wohnten dort ab 1942 siebzehn, 1943 noch vierzehn Personen gleichzeitig. Die angefügte Liste erinnert und würdigt alle Personen und ihr Schicksal.

Neue Besitzverhältnisse und Nachnutzung

Nach der Deportation von Martha Leffmann und ihres Mannes Hugo am 31. Juli 1942 fiel ihr Vermögen und damit auch das Haus in der Laerstr. 9 an das Deutsche Reich. Die Bezirksstelle der RVJD wurde am 10. Juni 1943 geschlossen, die verbleibenden Mitarbeiter am 28. Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert. Ab 1948 unterlag das Haus der Kontrolle der britischen Militärregierung und spätestens ab 1950 der Verwaltung des Finanzamtes.

1951 machte Marthas Schwester Alice, die 1936/37 mit ihrer Familie nach Palästina geflohen war, im Rahmen des Wiedergutmachungsverfahrens unter anderem auch ihren Anspruch auf das Haus Laerstr. 9 geltend. Die Rückübertragung erfolgte 1951. Der ehemalige Lehrling der Wäschefabrik, Friedrich Brandt, der das Wiedergutmachungsverfahren mit seiner Aussage unterstützte, übernahm die Verwaltung des Hauses bis zum Verkauf 1954 an Friedrich Fehse.

Im März 1954 wurde die Firma Fehse und Ellerbrock, Tuch und Futterstoffgroßhandlung, als neue Eigentümerin in das Grundbuch eingetragen. Damit schloss sich ein Kreis: Das von Gustav Stern erbaute Haus, das er für seine Textilproduktion nutzte, wurde erneut zum Mittelpunkt eines Geschäfts, das sich dem Handel mit Textilien widmete.

Erinnerung

Am 8. November 2023 wurden vor dem Haus Laerstr. 9 fünf Stolpersteine für Martha und Hugo Leffmann sowie für Auguste Goldschmidt, Herbert Goldschmidt und Werner Rappoport gelegt.

Spur aufgenommen und Recherche
Christiane Wauschkuhn
VHS-Geschichtswerkstatt

Literatur

  • Decker, Brigitte (Hrsg.) Heimweh nach Bielefeld? Vertrieben oder deportiert: Kinder aus jüdischen Familien erinnern sich (Bielefelder Beiträge zur Stadt- und Regionalgeschichte 22) Bielefeld 2007.

Quellen

  • Landesarchiv NRW Abt. OWL, D 23 B, Nr. 439565
  • Landesarchiv NRW Abt. OWL, D 20 A, Nr. 7080
  • Landesarchiv NRW Abt. OWL, D 20 A, Nr. 7708
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 18.: Meldekartei Bielefeld-Mitte, 1920-1958
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,3/Einwohnermeldeamt, Nr. 1440: Hausbücher Laerstraße
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 109,3/Wiedergutmachung, Nr. B 139
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 104,1/Ordnungsamt, Nr. 1181: Gewerbekarte der Firma S. Stern & Sohn
  • Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 300,8/Sammlung Judaica, Nr. 162: Brief des ehemaligen Lehrlings Friedrich Brandt an Sabine Comberti, Tochter von Alice Meyer-Michael geb. Stern und Enkelin von Julie Stern
  • Stadt Bielefeld, Immobilienservice, Hausakte Laerstr. 9
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