Die Kategorien für Spuren des Onlineportals unterscheiden u.a. zwischen „Opfern“ und „Tätern“. Diese vereinfachende Einteilung steht seit den 1990er Jahren in der Kritik und gilt heute in der aktuellen Forschungsdiskussion als veraltet.
Warum das Onlineportal dennoch die vermeintlich einfachen Kategorien verwendet, wie sie als Kategorien in der „Karte“ zu verstehen sind, welchen Einfluss sie auf die Texte in den Spuren haben und wie sie sich zur wissenschaftlichen Forschung verhalten, soll nachfolgend dargestellt werden.
In der interaktiven Stadtkarte („Karte“) des Onlineportals können über das Zahnrad-Symbol (rechts oben) folgende Kategorien aufgerufen werden, die farblich kodiert unterschiedliche Gruppen von Spuren anzeigen: Opfer – Täter – Orte – Ereignisse – Widerstand. Sie entstehen aus dem Konzept „Erinnerungskultur in Bielefeld“ und bieten eine erste Orientierung auf der Karte.
Die fünf Kategorien erfüllen im Onlineportal zwei Aufgaben:
Die ‚Tat‘ und die Vorbedingungen der nationalsozialistischen Verfolgung ist für die Bildung der Kategorien ein maßgeblicher Orientierungspunkt: Wenn die Spuren biographische Geschichten der Verfolgung erzählen, ist die Kategorisierung infolge der Tat nicht immer eindeutig oder mit der Identität einer Person gleich zu setzen. Sie können in unterschiedlichen Situationen und Konstellationen verschiedene Rollen annehmen und auch wieder ablegen. Handlungsspielräume haben ebenfalls eine entscheidende Bedeutung: Täter*innen hatten häufig die Wahl, die Tat oder eine Handlung zu begehen – Opfer hingegen nicht.
Die Kategorisierung der Spuren ist daher keine zeitgenössische, sondern eine von der heutigen Autor*innen vorgenommene Zuschreibung, die entlang aktueller erinnerungskultureller Bewertungen vorgenommen wird und sich am gewählten Narrativ orientiert. Sie muss nicht mit zeitgenössischen Begriffen oder Vorstellungen übereinstimmen. Sie erhebt auch keinen Anspruch auf universelle Gültigkeit, sondern ist Ausdruck des aktuellen Diskurses. Eine mögliche Verengung der Diskurse oder der differenzierten Auseinandersetzung mit den historischen Inhalten, ist im Onlineportal explizit nicht beabsichtigt.
Einer Spur können mehrere Kategorien zugeordnet werden. Die Kategorisierung nach „Opfern“ oder „Tätern“ ist daher nicht immer eindeutig oder abschließend. Sie bildet einen spezifischen und sich dynamisch entwickelnden Diskurs ab, die auch nicht den Anspruch erhebt, den vollständigen Wissenstand abzubilden. Die jeweiligen Kategorien für eine Spur werden von den Autor*innen und Redakteur*innen im Redaktionsprozess diskutiert und festgelegt.
Die aktuellen, fünf Kategorien sind in der Operativen Redaktion („OpeR“) des Onlineportals diskutiert und beschlossen worden. Im laufenden Betrieb des Onlineportals können sie anhand der Rückmeldung der Benutzer*innen angepasst, verändert oder erweitert werden.
Der Diskurs zu Opfern und Täter*innen nach 1945 war zunächst überwiegend auf juristische Fragen beschränkt. Anstoß gaben vornehmlich, aber nicht ausschließlich die alliierten Siegermächte – auch in Form der Nürnberger Prozesse. Fast 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs und der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zeichnet sich ein differenzierteres Bild. Es wurden und werden nicht nur unterschiedliche Wertungen gefällt, sie folgten und folgen auch unterschiedlichen Bewertungsmaßstäben. Dazu gehören auch sich verändernde Blickwinkel aus politischen, religiösen, kulturellen und ethnischen Interessenslagen. Die Gesellschaften wandeln sich und entwickeln unterschiedliche sowie differenzierte Bedürfnisse an eine Erinnerungskultur – eben auch an die Bilder von Opfern und Täter*innen.
Zu unterscheiden ist weiterhin zwischen juristischen und geschichtswissenschaftlichen (Wert-)Urteilen. Sie unterliegen den verschiedenen gesellschaftlichen Perspektiven wie auch zeitlich unterschiedlichen Wertungen der Öffentlichkeit. Darin zeigt sich nicht zwingend Beliebigkeit, sondern eine sich entwickelnde der Aufarbeitung und Bewertung der Zeit des Nationalsozialismus nach 1945 bis heute.
Die Geschichtswissenschaftliche Unterscheidung von „Täter*innen“, „Opfern“ und „Bystandern“ (engl.: Zuschauer, Mitläufer, Beobachter) nach Raul Hilberg (1982) reduziert die hohe Komplexität der Inhalte – z.B. von Biographien. Sie bietet einen ersten Zugang und fordert eine weitergehende, inhaltlich-komplexe Auseinandersetzung mit dem historischen Wissen.
Die aktuelle Geschichtsforschung begegnet der verhältnismäßig statischen Unterscheidung zwischen „Opfern“, „Täter*innen“ und „Bystandern“ mit einer zunehmenden Differenzierung: Vom Täter-Opfer-Dualismus zu verschiedenen Personen, Gruppen und Institutionen innerhalb der Gesellschaft, Orten und Ereignissen zwischen 1933 und 1945. In den Blick genommen werden darüber hinaus Nationalsozialismus-spezifische Gewaltdynamiken und Prozesse, ihre Voraussetzungen und Auswirkungen sowie die unterschiedlichen Mechaniken und Phänomene der Verfolgung im Zentrum (Deutsches Reich) und der Peripherie (besetzte Gebiete). So werden die Entscheidungen – besonders der Täter*innen – unter verschiedenen Bedingungen analysierbar sowie Alltagsphänomene der Verfolgung greifbar. Sie waren nicht nur staatlich-administrativ, sondern auch Folge von sozialen Normen im Alltag: Der Verlust des sozialen Status der Opfergruppen in der „Volksgemeinschaft“ wird als sozialer Prozess verstanden und erweitert den Blick auf die juristische „Täterschaft“.
Der im Onlineportal wieder aufgegriffene Dualismus von „Täter*innen“ und „Opfern“ soll und darf die akademische Diskussion nicht unterbrechen. Im Gegenteil: Der einfache Erstzugang über „Täter*innen“ und „Opfer“ schafft auch für weitere Diskursteilnehmer*innen die Möglichkeit zur Reflexion von:
So werden ferner Diskussionsräume und eine aktive Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Erinnerungskultur geschafften.
Jan-Willem Waterböhr, 05.02.2024
(Mit freundlicher Unterstützung von Prof. Dr. Christina Morina und dem Balzan Bystanding Project)