Dossier: Der § 175 und die Verfolgung Homosexueller in Bielefeld (1933 – 1945)

Der folgende Text vermittelt zunächst einen Überblick über die Hintergründe der Verschärfung des § 175 RStGB durch die Nationalsozialisten und die auf dieser Basis erfolgte, systematische, polizeiliche und strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer im NS-Staat. In einem zweiten Teil werden die Erkenntnisse Niko Ewers über die besondere Verfolgungsintensität vorgestellt, die Gestapo und Justiz in Bielefeld (und Umgebung) entwickelten. Beispielhaft für die Kontinuität der Verfolgung über 1945 hinaus wird das Lebensschicksal des Bielefelder Juden und Homosexuellen Ludwig Meyer angesprochen. Das Dossier ist entstanden im Rahmen der Arbeit des AK „Queere Geschichte“ von BIEqueer e.V. Daher ist es uns ein Anliegen, in einem abschließenden Kapitel den Blick zu öffnen auf die nicht direkt nach dem §175 verfolgten Opfergruppen, lesbische Frauen sowie nach heutigem Verständnis trans* und queerer Menschen, die aufgrund ihrer geschlechtlichen oder sexuellen Orientierung von den Nationalsozialisten diskriminiert und verfolgt wurden.

Der § 175 RStGB und die Verfolgung Homosexueller durch den NS-Staat

Das am 18. Januar 1871 gegründete Deutsche Reich übernahm in seinem Reichsstrafgesetzbuch (RStGB) vom 1. Januar 1872 den § 175 aus dem Strafgesetzbuch des Norddeutschen Bunds von 1867:

Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen; auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.“

1880 grenzte das neu geschaffene Reichsgericht in einer der ersten Entscheidungen die Wirksamkeit des § 175 faktisch auf „beischlafähnliche Handlungen“ ein.

Diese Eingrenzung entfiel mit dem verschärfenden Gesetz zur Änderung des Reichsstrafgesetzbuchs vom 20. Juni 1935:

Ein Mann, der mit einem anderen Mann Unzucht treibt oder sich zur Unzucht missbrauchen läßt, wird mit Gefängnis bestraft“.

Jeder Kuss, jede Berührung – jedwede sexuelle Handlung, sogar „jegliche Form von liebevoller Zuneigung unter Männern“ (Kreismuseum Wewelsburg 2023) war nunmehr strafbar. Neu wurde im § 175a der Tatbestand der „schweren Unzucht“ eingeführt. Sie betraf Nötigung, Missbrauch und Ausnutzen der Stellung als Vorgesetzter ebenso wie mannmännliche Prostitution; die Bestrafung schloss auch die Opfer ein.

SA-Stabschef Ernst Röhm, 1933
Stabschef der SA Ernst Röhm,
während des SS-Apells im
Deutschen Stadion Berlin, 1933.
Bundesarchiv, Bild 102-15282A
(Georg Pahl). URL

Hintergrund dieser Verschärfung war die Instrumentalisierung der Homosexualität Ernst Röhms. In der „Nacht der langen Messer“ vom 30. Juni auf den 1. Juli 1934 ließ Adolf Hitler ihn und seine Gefolgsmänner durch die SS ermorden. Hitlers langjährigem Weggefährten, „altem Kämpfer“ und Stabschef der Sturmabteilung (SA) wurden Putschabsichten unterstellt („Röhmputsch“). Tatsächlich ging es um Machtfragen innerhalb des NS-Regimes und speziell um das Verhältnis von SA, SS und Reichswehr. Ernst Röhm stand Adolf Hitler, aber auch SS-Führer Heinrich Himmler im Weg und wurde am 1. Juli 1934 ermordet. Angesichts der Popularität Röhms musste als Begründung jedoch eine angebliche Verschwörung einer homosexuellen Führungsclique um Röhm gegen den „Führer“ herhalten. Dies trug der weit verbreiteten antihomosexuellen Stimmung in der Bevölkerung und dem Mythos „illoyalen Verschwörertums aller Gleichgeschlechtlichen“ (Jellonnek 1990, S. 96) Rechnung und schaltete zugleich jegliche Hinterfragung des eigentlichen Motivs aus. Damit hatte der NS-Staat eine neue Opfergruppe definiert, „hatte Homosexualität und ihre Träger zur konspirativen, staatsgefährdenden Macht aufgebauscht“ (ebd., S. 98).

Jedoch gab es auch eine ideologische Begründung:

„[Männliche] Homosexualität stand in direktem Gegensatz zur NS-Rassen- und Familienpolitik. ‚Erbgesunde‘ männliche und weibliche ‚arische Volksgenossen‘ hatten die Aufgabe, ebenso erbgesunde Nachkommen zu zeugen, um den Erhalt der Rasse zu sichern.“ (CSG 2021, S. 72)

Die Auswirkungen des verschärften § 175: „Treibjagd“ gegen homosexuelle Männer

Folge des verschärften § 175 waren alltäglicher Terror gegen Homosexuelle durch Polizei und Gestapo sowie ca. 50.000 Verurteilungen nach den §§ 175/175a RStGB. Ungefähr 5.000 bis 15.000 Homosexuelle wurden in Konzentrationslagern inhaftiert, die in ihrer Mehrheit die Lager nicht überlebt haben.

Ab Mai 1934 wurden die kleineren, bereits 1933 als Instrumente des politischen Terrors eingerichteten Konzentrationslager schrittweise aufgelöst und größere Konzentrationslager errichtet, die der „Inspektion der Konzentrationslager“ (IKL) unterstellt und nach der im Oktober 1933 in Dachau eingeführten Lagerordnung („Dachauer Modell“) geführt wurden.  Die unterschiedlichen Gruppen der in den KZs inhaftierten Menschen, vor allem Jüdinnen und Juden und andere rassistisch Verfolgte („Zigeuner“), Politische, Kriminelle und „Asoziale“, wurden in den KZs durch unterschiedlich farbige, dreieckige Aufnäher auf Jacken und bei Männern zusätzlich an den Hosenbeinen gekennzeichnet. In der Regel trugen Homosexuelle den Rosa Winkel. Dabei boten

die Markierungen als solche keine absolute Garantie für die Qualität und wirkliche Zugehörigkeit des Trägers […] Ummarkierungen sind in der Tat gelegentlich […] vorgekommen.“ (Kogon 1959, S. 51)

Palast-Theater und Gloria in der Bielefelder Niedernstraße
Niedernwall mit den Kinos Gloria
und Palast-Theater (nicht im Bild).
Dort hatte die Gestapo „Strichjungen“
beobachtet und im Rahmen der
„Sonderaktion gegen Homosexuelle“ auch
Freier festgenommen (s. Ewers 2000, S. 87).
Stadtarchiv Bielefeld, Bestand
400,3/Fotosammlung, Nr. 75-017.

Wer als Homosexueller einer solchen Kennzeichnung entging, hatte relativ bessere Haftbedingungen. Denn „ähnlich wie gegen die Juden, wenn auch in kleinerem und die Öffentlichkeit wenig berührendem Maße, ging die SS gegen die Homosexuellen vor“ (ebd., S. 263); sie bildeten die „niedrigste Kaste“ (Heger 2001, S.146, vgl. S. 33), waren auch durch die meisten „Politischen“ verachtet.

Verschärft wurde die Situation am 10. Oktober 1936 durch Himmlers „Geheimerlaß zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“ und die Einrichtung einer „Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und Abtreibung“.

Die wesentlichsten Instrumente, die zur massiven Verfolgung homosexueller Männer eingesetzt wurden, waren:

  • die systematische Überwachung der Treffpunkte (wie Parks und Bedürfnisanstalten/öffentliche Toiletten als Orte, die Anonymität gewährleisten sollten und den unmittelbaren Blicken der Öffentlichkeit entzogen waren),
  • das Anlegen sog. „Rosa Listen“ (seit 1934) sowie von Bilddateien, anhand derer Beschuldigte ihre „Mittäter“ identifizieren sollten,
  • Wohnungsdurchsuchungen, um anhand von Briefen, Fotos und Adressenlisten weiterer homosexueller Männer habhaft zu werden,
  • die Denunziation durch willfährige Nachbarn und Arbeitskollegen,
  • das Erpressen von Geständnissen durch Folter sowie
  • die Inhaftierung ohne richterliche Anordnung („Schutzhaft“).

Ohne das aktive Zutun der Beamten der Schutz- und Kriminalpolizei und der Gestapo, der Richter der Amts- und Landgerichte und der leitenden Beamten des Strafvollzugs hätte sich all das nicht umsetzen lassen. Sie alle nutzten die Ihnen vom Regime eingeräumten Handlungs- und Ermessensspielräume.“ (Ahland 2020, S. 28)

Die Unrechtsurteile nach §§ 175/175a durch die NS-Justiz wurden erst 2002 in einem Ergänzungsgesetz zur 1998 erfolgten Aufhebung aller seinerzeit noch bestehenden NS-Unrechtsurteile kassiert; erst 2004 wurden die bestehenden Gesetze über Härteleistungen an Opfer von NS-Unrecht für Betroffene der §§ 175/175a Ziffer 4 RStGB geöffnet.

Bielefeld: „Sonderaktion“ im Zeichen des verschärften § 175

Zwei Tage nach dem „Himmler-Erlass“ wurde in Bielefeld als erstes Opfer der 23-jährige Bruno Kiel, geboren am 1. Dezember 1902 in Sündern, wohnhaft in Lippinghausen (Kreis Herford) in „Schutzhaft“ genommen. Es war der Beginn einer bis 1938 andauernden „planmäßigen Treibjagd“ und „eine prompte Erfüllung des staatspolitischen Auftrags“; in Bielefeld erfolgte die Gestapo-Aktion „so prompt wie bei kaum einer anderen Großstadt“ außer Berlin, Hamburg und Duisburg/Essen. Die Bielefelder Gestapo war zwar für die ganze Region Bielefeld, Halle, Herford, Minden, Lippe, Paderborn und Wiedenbrück zuständig, allerdings „muss man für Bielefeld von einer weit überdurchschnittlichen Verfolgungsintensität […] sprechen.“ (Ewers 2000, S. 76 f.)

Polizeigefängnis in der Turnerstraße, 1941.
Stadtarchiv Bielefeld, Bestand 400,3/
Fotosammlung, Nr. 95-005-039.

Ewers fand im Landesarchiv NRW Abteilung Ostwestfalen-Lippe in Detmold 250 Akten, die die Verfolgung Homosexueller in OWL durch den NS-Staat dokumentieren. Diese wurden systematisch und mit körperlichen Misshandlungen unter Druck gesetzt, um sie zu Geständnissen und zur Preisgabe möglichst vieler ihrer Sexualpartner zu zwingen. Die Situation im Polizeigefängnis beschreibt ausführlich ein Brief von Ernst Burre aus Gütersloh, geboren am 30. Dezember 1906, der nach eigenen Angaben völlig zu Unrecht der Homosexualität bezichtigt wurde:

„[…] Jeder hat nur einen Wunsch, sobald wie möglich aus der Ungewissheit der Schutzhaft, in der ja kein Rechtsbeistand zugelassen wird, rauszukommen und möglichst bald vor Gericht zu kommen. Und es herrschte allgemein die Ansicht, man käme am schnellstem heraus aus der Schutzhaft in die Untersuchungshaft, wenn man möglichst viele und umfangreiche Geständnisse ablegt. […] Ich habe bislang nicht gewußt, was es heißt, Angst zu haben. Aber in der Schutzhaft habe ich es gelernt.“ (Zit. n. Ewers 2000, S. 83 f.) 

Präsident am Landgericht Bielefeld war seit dem 1. Oktober 1936 der Nationalsozialist Heinrich Pfeil, der aufgrund des hohen Aufkommens vom 1. Februar bis Ende Juni 1937 eine Sonderstrafkammer nur für Verfahren nach §§ 175/175a einsetzte. Wie am Fließband führte sie in dieser Zeit 199 Verfahren durch, von denen 185 mit einer Verurteilung endeten. Insgesamt wurden am Landgericht Bielefeld – zuständig in etwa für die heutigen Kreise Herford, Minden und Teile Güterslohs sowie die Stadt Bielefeld – von 1935 bis 1945 (bei unvollständiger Aktenlage) mindestens 491 Prozesse nach § 175 geführt, in der Region einschließlich Lippe insgesamt 615 Strafverfahren. Für die genannte Region sind 348 Urteile dokumentiert.

Nahm die Öffentlichkeit von der Verfolgung Homosexueller Notiz? Gab es eine Zeitungsberichterstattung über Razzien, Festnahmen oder Prozesse? Setzten die NS-Behörden auf „Abschreckung“ durch Herstellung von Öffentlichkeit oder zogen sie „Diskretion“ für ihr Treiben vor? Dazu stehen Forschungen noch aus. Erkenntnisse könnte eine Auswertung der Berichterstattung in den Westfälischen Neuesten Nachrichten und in der Westfälischen Zeitung durch Volltextsuche in den digitalisierten Beständen bringen, ebenso eine Auswertung der NS-Blätter wie „Der Stürmer“.

Seit 1938 drohte nach der Strafverbüßung die Einweisung ein Konzentrationslager. Ewers zu Folge betraf dies in Bielefeld und Umgebung mindestens 25 Personen, von denen elf die Gefangenschaft in unterschiedlichen Konzentrationslagern nicht überlebt haben.

Unter den homosexuellen Inhaftierten des nahegelegenen KZ Niederhagen (Büren-Wewelsburg), deren Schicksale für die Sonderausstellung „Haftgrund: § 175 – Vergessene Schicksale des KZ Niederhagen“ (2023) aufgearbeitet wurden, befand sich niemand aus Bielefeld oder Umgebung; bei ihnen handelte es sich um Männer, die aus Haftanstalten oder KZ aus dem Reichsgebiet überstellt worden waren. Zeitweise wurden dort zu Tode gekommene Inhaftierte im Krematorium des Bielefelder Sennefriedhofs eingeäschert und dort beigesetzt. Beispielhaft aufgearbeitet hat Detlev Hamann das Schicksal von Helmut Grassme; dessen Spur verliert sich auf dem Sennefriedhof, weil nach 1945 Homosexuelle nicht als NS-Verfolgte anerkannt und ihre Gräber nicht dem Sondergrabfeld zugeordnet wurden.

Ludwig Meyer zum Beispiel – oder der „Schlachtertango“

Unter den KZ-Überlebenden befand sich der Bielefelder Kaufmann, Jude und Homosexuelle Ludwig Meyer, dessen Schicksal ziemlich genau rekonstruiert und im Einpersonenstück „Schlachtertango“ des Bielefelder Schauspielers Michael Grunert erzählt wird.

Ludwig Meyer in der ersten Schwulenkneipe
Hannovers “Wielandseck” ab 1960.
Privatbesitz Michael Grunert.

Meyer wurde im Zuge der oben dargestellten „Sonderaktion gegen Homosexuelle“ verhaftet und zu acht Monaten Gefängnis verurteilt, ein Jahr später noch zweimal zu je sechs Wochen. Am 2. Juni 1938 wurde er „als Jude“ in das KZ Buchenwald gesperrt, danach nach Auschwitz und vor dort nach Mauthausen verlegt. Nach seiner Befreiung kehrte er zurück nach Bielefeld.

Ludwig Meyer wurde 1948 erneut nach dem § 175 verurteilt. Die lokalen Wiedergutmachungsbehörden setzten alles daran, ihm die Anerkennung als rassisch verfolgter Jude zu entziehen. Er zog 1953 nach Hannover, wo er das erste Schwulenlokal eröffnete – 1961 zog er weiter nach Hamburg, wo er einen Kiosk betrieb und 1975 einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel.

Kontinuität der Verfolgung nach 1945

Die §§ 175/175a RStGB in der NS-Fassung wurden von der Bundesrepublik Deutschland unverändert in das Strafgesetzbuch übernommen, weil sie nicht als typisch nationalsozialistisches Unrecht angesehen wurden. Erst durch die Strafrechtsreformen 1969 und 1973 wurden freiwillige sexuelle Handlungen unter volljährigen Männern (über 21 Jahren bzw. ab 1973 über 18 Jahren) straffrei gestellt. In der DDR war 1950 der § 175 in die Fassung von 1872 zurückgesetzt und 1968 durch den § 151 ersetzt worden, der homosexuelle Handlungen erwachsener Frauen und Männer mit Jugendlichen unter Strafe stellte und 1988 gestrichen wurde. Erst am 11. Juni 1994 wurde der § 175 im Zuge der Wiedervereinigung und Rechtsangleichung endgültig abgeschafft.

Bis zum 1. September 1969 wurden ca. 45.000 bis 50.000 Strafurteile gefällt – ebenso viele wie von dem NS-Regime (Burgi 2016, S. 28; Bruns 2012, S. 28 f.; Schwartz 2020, S. 18). Rehabilitiert wurden die wegen einvernehmlicher sexueller Handlungen verurteilten Männer im Anschluss an ein Rechtsgutachten durch ein rechtshistorisch einmaliges Gesetz, das am 22. Juli 2017 in Kraft getreten ist (StrRehaHomG).

Was geschah mit Frauen liebenden Frauen? – Wie ging der NS-Staat mit Transvestitismus und Cross-Dressing, trans* und queeren Menschen um?

Aufgrund von Umfang, Systematik und Brutalität ihrer Verfolgung bildeten die homosexuellen Männer eine signifikante Opfergruppe des NS-Terrors. Aber auch Menschen, die nicht unter die §§ 175/175a fielen, konnten aufgrund vom Familien- und Rollenbild der Nazi-Ideologie aufweichender sexueller oder geschlechtlicher Orientierung Opfer von Diskriminierung und Verfolgung werden.

Weibliche Homosexualität etwa galt in der Geschlechterhierarchie im Vergleich zur männlichen „als sozial ungefährlicher und im Sinne der Bevölkerungspolitik weniger bedrohlich“ (Schoppmann 2014, S. 86). Darüber hinaus war die soziale Kontrolle über Frauen derart ausgeprägt, dass man auf eine systematische und strafrechtliche Abschreckung verzichten konnte. Dies kann erklären, warum auch durch die Nationalsozialisten keine Ausweitung der Geltung des §175 auf Frauen erfolgte. Dennoch erlitten auch lesbische Frauen „vielfältige Formen von Diskriminierung, Repression und Verfolgung“ (ebd., S. 88). Gegen sie fanden sich andere Orte im Strafrecht: Etwa Förderung der Unzucht durch Kuppelei (§ 180), Erregung öffentlichen Ärgernisses (§ 183) oder gewerbsmäßige Unzucht (§§ 327 und 361). Ebenso öffneten der Bruch mit dem Grundsatz „ohne Gesetz keine Strafe“ durch den novellierten § 2 RStGB und das „gesunde Volksempfinden“ Tor und Tür auch für willkürliche Repressionen gegen lesbische Frauen. Auch wenn sie bei weitem nicht so systematisch und massiv verfolgt wurden wie homosexuelle Männer (vgl. CSG, S. 119), kann „die Diskriminierung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus in der Tat als Verfolgung bezeichnet werden.“ (Lücke 2022, S. 423)

Die Archivlage zu lesbischen Frauen bleibt schwierig. Viele Lebensschicksale lesbischer Frauen blieben im Dunklen oder wurden erst sehr spät als solche bekannt:  Margot Heumann (1922 – 2022) zum Beispiel zog mit ihren Eltern 1937 nach Bielefeld; von hier aus wurde die jüdische Familie nach Theresienstadt deportiert. Dort lernte Margot Dita kennen; in Auschwitz-Birkenau trafen sich beide wieder; sie blieben auch im Hamburger Außenlager des Konzentrationslagers Neuengamme zusammen, von wo sie den Todesmarsch nach Bergen-Belsen überstanden; mit der Befreiung Bergen-Belsens trennten sich ihre Wege. Margot Heumann kam über Schweden nach New York; sie lebte trotz (und parallel zu) einer 1953 eingegangen Ehe weiter lesbisch. Dass Dita nicht, wie in Holocaust-Archiven und -Überlieferungen bezeichnet, „ihre beste Freundin“ war, sondern ihre frühe und erste Geliebte, enthüllte sie erst 2018 (siehe Artikel im Tagesspiegel und bei Wikipedia).

Transvestitismus war in der Weimarer Zeit vor allem der Transvestismus heterosexueller, meist verheirateter Männer, die bestrebt waren, sich deutlich von Homosexuellen abzugrenzen. In der NS-Zeit zogen diese sich aus dem öffentlichen Raum zurück; es ist kein Fall aktenkundig, wo diese Männer – sofern sie den Nachweis erbrachten, nicht homosexuell zu sein, und kein

öffentliches Ärgernis“ erregten – strafrechtlich verfolgt worden wären. Sie waren der NS-Ideologie zwar „suspekt, dennoch schienen die Verfolgungsbehörden den heterosexuellen Transvestitismus nicht so bedrohlich wie den homosexuellen wahrgenommen zu haben.“ (Herrn 2013, S. 354)

Strafverfolgung und Repression richteten sich daher – im Einklang mit der Verfolgungspraxis auf der Basis der §§ 175/175a – vor allem gegen homosexuelle Männer in Frauenkleidung (homosexuelle Transvestiten). Wo es gelang, ihnen strafbare homosexuelle Handlungen oder gar Prostitution nachzuweisen, konnte der Transvestitismus strafverschärfend wirken. Gutachter empfahlen häufig die freiwillige Kastration.

Der Umgang mit lesbischen Frauen in Männerkleidung (Transvestitinnen) war

ebenso widersprüchlich wie willkürlich […] Die juristischen Sanktionen wegen des öffentlichen Tragens von Männerkleidung reichen von aktenkundigen Verwarnungen bis hin zur KZ-Haft. Zugleich kam es in Ausnahmefällen auch bei Transvestitinnen zur Bewilligung von Transvestitenscheinen oder zur Vornamensänderung.“ (ebd., S. 330 f.)

Die erste vollständige Mann-zu-Frau-Geschlechtsumwandlung war 1920/1921 im Hirschfeld-Institut erfolgt. Weiterhin sprach man von Transvestiten; erst in den 1960er Jahren bürgerte sich im deutschen Sprachraum der Begriff der „Transsexualität“ ein. Daher sind über die strafrechtliche und polizeiliche Verfolgung von sich nach heutigem Verständnis als Trans* oder queer verstehenden Menschen im NS-Staat noch keine gesicherten Aussagen möglich.

Auf dem Weg zu einer „queeren“ Erinnerungskultur in Bielefeld?

Eine kursorische Durchsicht der in Bielefeld verlegten Stolpersteine ergibt lediglich einen konkreten Hinweis auf Homosexualität: Der in Dortmund durch Todesstrafe ermordete, auf dem Ehrenfeld der politisch Verfolgten des Bielefelder Sennefriedhofs beigesetzte Paul Brockmann war 1937 auf der Basis des §175 zu 16 Monaten Gefängnis verurteilt worden und spätestens 1940 Teil des Widerstands der zerschlagenen Bielefelder Arbeiterbewegung geworden.

Flyer „Schlachtertango“ und
„Rosa Winkel? Das ist doch
schon lange vorbei…“, 2011.
Stadtarchiv Bielefeld, Bestand
400,70/ Zeitgeschichtliche
Sammlung, Nr. 7980.

Rosa Winkel? Das ist doch schon lange vorbei…“, lautete der Titel eines 1975/1976 an der Uni Bielefeld entstandenen Films von Peter Recht, Christiane Schmerl und Detlef Stoffel. Der Rosa Winkel wurde für die Anfang der 1970er Jahre entstandene schwule Emanzipationsbewegung zu einem Symbol ihres Kampfes für die Abschaffung des § 175, für die Anerkennung des erlittenen Unrechts sowie für die rechtliche und soziale Gleichstellung.

Den Grundstein zu einer schwulen Erinnerungskultur für Bielefeld legten allerdings die erwähnten Forschungen Niko Ewers. Die von ihm entdeckte Lebensgeschichte des schwulen Juden Ludwig Meyer bildete die Grundlage für das erste Zeugnis einer Bielefelder schwulen Erinnerungskultur: den bereits genannten „Schlachtertango“, ein Ein-Personenstück Michael Grunerts, das bundesweit aufgeführt wird. Über das Beispiel Ludwig Meyers hinaus bleibt es ein Desiderat, durch personenbezogene Opferforschung weitere Lebensschicksale der wegen ihrer Homosexualität verfolgten Bielefelder aufzuhellen.

Darüber hinaus bleibt es ein Desiderat, durch vertiefende Forschung – auch im Kontext der oben angesprochenen Presseauswertung, aber auch in Polizei- und Gerichtsakten – Orte und Treffpunkte Homosexueller zu ermitteln und zu beschreiben, die über die Weimarer Zeit hinaus Bestand hatten und vermutlich Objekt polizeilicher Razzien waren. Über diese Forschungsdesiderate für eine schwule Erinnerungskultur in Bielefeld hinaus öffnet der Arbeitskreis von BIEqueer e.V. den Blick auf die Suche nach Zeugnissen und Erkenntnissen über weitere, wegen ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität diskriminierten oder verfolgten, trans* und/oder gender-nonkonformen Menschen in Bielefeld.

Im Juni 2023 veranstaltete der Arbeitskreis daher eine Vortragsveranstaltung mit dem Initiator der ersten Gedenkstele in Deutschland überhaupt, mit deren Errichtung und Einweihung in Mainz im Juni 2021 aller Opfer mit LSBTI-Hintergrund gedacht wird. Weitere Veranstaltungen und Diskussionen sind geplant. Spannend wird dabei die Frage sein: Wie kann eine Öffnung der Erinnerungskultur für trans* und/oder gender-nonkonforme Menschen gelingen, ohne dabei die besondere Intensität der Verfolgung homosexueller Männer in der NS-Zeit zu relativieren? Wie können wir Gleichberechtigung und Würdigung aller Opfergruppen herstellen, ohne das jahrzehntelange Engagement für eine schwule Erinnerungskultur aus den Augen zu verlieren?

Sigmar Fischer (2023)
AG “queere Geschichte und Erinnerungskultur in Bielefeld” – BIEqueer e.V.

Literatur

  • Ahland, Frank, „Von normalen Menschen unterscheidet sich der Angeklagte lediglich durch eine angeborene oder erworbene Homosexualität.“ Umrisse der Verfolgung homosexueller Männer zwischen Ruhr und Emscher, in: Ministerium der Justiz des Landes NRW (Hrsg.) in Zusammenarbeit Michael Schwartz, Justiz und Homosexualität, Düsseldorf/Recklinghausen 2020, S. 25 – 51
  • Bruns, Manfred, Die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Männer in der BRD nach 1945, in: Landesstele für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung bei der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen Berlin (Hrsg.), § 175 StGB Rehabilitierung der nach 1945 verurteilten homosexuellen Männer. Dokumentation des Fachsymposiums am 17, Mai 2011 und ergänzende Beiträge, Berlin 2012, S. 26 – 43
  • Burgi, Martin, Rehabilitierung der nach § 175 StGB verurteilten homosexuellen Männer: Auftrag, Optionen und verfassungsrechtlicher Rahmen. Rechtsgutachten für die Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2016
  • CSG / Velke-Schmidt, Marcus (unter Mitarbeit von Konrad Balser, Lenard Kramp, Friedrich H. Schregel), Im Namen des Volkes!? §175 StGB im Wandel der Zeit. Ausstellungskatalog, Centrum Schwule Geschichte, Köln 2021
  • Degen, Barbara, Weibliche Homosexualität in der Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Ministerium der Justiz des Landes NRW (Hrsg.) in Zusammenarbeit Michael Schwartz, Justiz und Homosexualität, Düsseldorf/Recklinghausen 2020, S. 96 – 120
  • Ewers, Niko, „Besonders ein regelrechtes Liebesverhältnis muss auf’s schwerste verurteilt werden“. Verfolgung von Homosexuellen in Bielefeld in der Zeit des Nationalsozialismus, in: Jahresbericht des Historischen Vereins für die Grafschaft Ravensberg, Jg. 86 (2000), S. 73 – 90
  • Hamann, Detlev, Spurensuche § 175 (Dokumentarfilm), Bielefeld 2021.
  • Heger, Heinz, Die Männer mit den Rosa Winkel. Der Bericht eines Homosexuellen über seine KZ-Haft von 1939 – 1945, Hamburg 1972, 5. Auflage 2001
    https://www.2mecs.de/wp/2016/04/josef-kohout-1915-1994-und-heinz-heger-1914-1978/
  • Herrn, Rainer, Verkörperungen des anderen Geschlechts – Transvestitismus und Transsexualität historisch betrachtet, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 20-21 (2012), S. 41 – 48
  • Herrn, Rainer, Transvestitismus in der NS-Zeit – Ein Forschungsdesiderat, in: Zeitschrift für Sexualforschung 4 (2013), S. 330 – 371
  • Jellonnek, Burkhard, Homosexuelle unter dem Hakenkreuz. Die Verfolgung von Homosexuellen im Dritten Reich, Paderborn 1990
  • Kogon, Eugen, Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager, Frankfurt/M. 1946, Ausgabe 1959 (unveränderter Neudruck mit verändertem Vorwort)
    Inhaftiert im KZ Buchenwald 1942 – 1945.
  • Kreismuseum Wewelsburg (Hrsg.), Haftgrund: § 175 – Vergessene Schicksale des KZ-Niederhagen, Begleitbroschüre zur Sonderausstellung, 2023
  • Lücke, Martin, Die Verfolgung lesbischer Frauen im Nationalsozialismus. Forschungsdebatten zu Gedenkinitiativen am Beispiel des Frauen-Konzentrationslagers Ravensbrück, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 70 (2022), S, 422 – 440
  • Stümke, Hans-Georg / Winkler, Rudi, Rosa Winkel, Rosa Listen. Homosexuelle und „Gesundes Volksempfinden“ von Auschwitz bis heute, Reinbek bei Hamburg 1981 (S. 175 – 200 zum „Röhmputsch“ und zur Verschärfung des § 175)
  • Schoppmann, Claudia, Lesbische Frauen und weibliche Homosexualität im Dritten Reich. Forschungsperspektiven, in: Schwartz, Michael (Hrsg.), Homosexuelle im Nationalsozialismus. Neuere Forschungsperspektiven zu Lebenssituationen von lesbischen, schwulen, bi-, trans- und intersexuelle Menschen 1933 – 1945, Oldenburg 2014, S. 85 – 91
  • Schwartz, Michael, Justiz und Homosexualität im 20. Jahrhundert. Einführende Bemerkungen, in: Ministerium der Justiz des Landes NRW (Hrsg.), Justiz und Homosexualität, Düsseldorf/Recklinghausen 2020, S. 11 – 27
  • Zeitzeugengespräch mit Paul Gerhard B., in: Heinz-Dieter Schilling, Hrsg., Schwule und Faschismus, Berlin (W) 181, S. 61 – 65

Internetquellen