Nach beinahe einem Vierteljahrhundert in ihrer Wohnung in der Bahnhofstraße 27 brach am 30. Mai 1939 ihr letzter Tag im nun leer gewordenen elterlichen Zuhause an. Erna (*24. Februar 1883) und Flora (*10. April 1881) Heine waren echte Bielefelderinnen – sie waren hier geboren worden und hatten den Großteil ihres Lebens hier verbracht. Beide waren Schneiderinnen und ledig. Interessant ist es, die Lebenswege zu vergleichen: Erna lebte vor dem Ersten Weltkrieg von 1907 bis 1913, im Alter zwischen 24 und 30 Jahren in Kassel, Frankfurt am Main, Brüssel, Leipzig und Hamburg.
Flora hingegen war ab 1902 im Alter von 21 Jahren dauerhaft in Bielefeld ansässig. Zuvor hatte sie einige Zeit in Hoerden verbracht. Im Jahr 1913 zog Erna, aus Hamburg kommend, wieder zur Familie in die Wohnung in der Hauptstraße 1. Nach drei Jahren in der Lützowstraße 8 fand die Familie Heine ein dauerhaftes Zuhause in der Bahnhofstraße 27. Fast 23 Jahre lang sollten Erna und Flora hier mit den anderen Familienmitgliedern ununterbrochen wohnen. Neben Erna und Flora gehörten zur Familie Heine noch:
Mit den Jahren wurde es einsamer in der Wohnung: Ferdinand fiel am 20. Dezember 1916 im Alter von 32 Jahren im Ersten Weltkrieg. Die Mutter starb am 29. Januar 1927, der Vater fast genau sechs Jahre später am 26. Januar 1933, nur vier Tage vor der sog. Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Schwestern waren von nun auf sich allein gestellt.
Wie viele jüdische Menschen wurden sie in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft gezwungen, ihre Wohnung aufzugeben. Manchmal geschah dies durch direkten Rauswurf, manchmal waren sie infolge des wirtschaftlichen Ruins gezwungen, sich anderweitig umzusehen. Was bei Erna und Flora zutraf, steht nicht fest. Sicher ist, dass sie zunächst nicht, wie andere Bielefelder Jüdinnen und Juden in ein sog. „Judenhaus“ kamen, sondern im Juni 1939 eine Wohnung in der Niedernstraße 24 bezogen. Seit dem 1. Juni mussten sie als zweiten Vornamen den Namen „Sara“ tragen. Ab Juni 1939 wurde der Nachname der Schwestern offiziell von „Hein“ in „Heine“ geändert die Motive sind unbekannt.
Vieles liegt im Dunkeln im Leben der zwei Bielefelder Jüdinnen. Wir wissen derzeit nicht, wo sie vor der Deportation arbeiteten, warum sie ledig blieben, wie sie die Lage im zunehmend repressiven nationalsozialistischen Deutschland empfanden. Wir wissen nur, dass sie gemeinsam mit den anderen Bielefelder Jüdinnen und Juden am 13. Dezember 1941 in das Rigaer Ghetto deportiert worden und von dort nicht wieder zurückgekehrt sind.
Spur aufgenommen und Recherche
David Hecken
Landesarchiv Nordrhein Westfalen – Abteilung OWL